Schön, dass es der Radverkehr mal wieder bundesweit in die Medien geschafft hat: den neuen „Zick-Zack-Radweg“ im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf haben selbst Süddeutsche Zeitung, SPIEGEL ONLINE, ZDF, Neue Zürcher Zeitung und viele andere nationale und internationale Medien nicht ignorieren können… Ist das nun nur ein Sommerloch-Thema? Oder ist das eine ganz besondere Ausprägung der aktuellen Diskussion um angemessene Radverkehrsinfrastruktur in den Städten?

Ein Einzelfall oder groteske Zuspitzung eines Diskussionsprozesses?

Mir scheint es tatsächlich lohnend, da etwas genauer hinzuschauen. Natürlich ist das, was dort hingepinselt worden ist, weder von realem Nutzen für die Radfahrenden noch in irgendeiner Form fachlich vertretbar. Umso einfacher ist es, rasche stereotype Urteile zu fällen: die unfähige Verwaltung, überforderte Baufirmen, die ahnungslose Politik… Aber mir scheint diese kleine Geschichte durchaus symptomatisch dafür, wie derzeit in Berlin und auch anderswo die vermeintliche Förderung des Radverkehrs Blüten treibt, die eher das Gegenteil bewirken.

Ich kenne die Details in diesem konkreten Fall nicht. Aber eine solche Situation kann auch woanders vorkommen: da beschweren sich Eltern über die mangelnde Verkehrssicherheit auf dem Schulweg ihrer Kinder. Das Fahren auf der Fahrbahn sei (trotz Tempo-30-Zone) zu unsicher, es bräuchte Radwege klar getrennt von der Fahrbahn, früher hätte man doch auch auf dem Gehweg radeln dürfen… Welcher zuständige Stadtrat, welche zuständige Stadträtin will sich da Untätigkeit vorwerfen lassen, wenn es um die Verkehrssicherheit für Schulkinder geht? Also wird ein (vermutlich etwas schwammig formulierter) Auftrag an eine Baufirma erteilt, eine Trennmarkierung auf dem Gehweg aufzubringen, vermutlich ohne konkreten Lageplan. Die steht dann etwas ratlos vor Ort und interpretiert den unklaren Auftrag auf ihre Weise. Ergebnis: siehe oben. Aber wem ist jetzt eigentlich konkret welcher Vorwurf zu machen? Den Eltern, weil sie sich um ihre Kinder sorgen? Der Verwaltung, die schnell für eine (vermeintliche) Lösung sorgen wollte? Der Baufirma, die weder die Bäume fällen noch die Grundstücksgrenze versetzen wollte? Und – hätte ein gerader Strich eigentlich irgendetwas verbessert?

Wiederholt sich die Geschichte? Die Rückkehr zur Separierung aller Verkehrsarten

Seit Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat es einen zähen, hürdenreichen, aber letztendlich durchaus erfolgreichen Kampf darum gegeben, neue und deutlich bessere Standards für Radverkehrsinfrastruktur zu entwickeln, zu erproben und wissenschaftlich zu untersuchen, in den Richtlinien zu verankern und schließlich auch in der Praxis durchzusetzen. Das war und ist ein langwieriger Prozess. Seit wenigen Jahren läuft quer dazu eine von Teilen der Radverkehrslobby vorangetriebene Diskussion mit dem Tenor: Nach objektiven Sicherheitskriterien mögen die neuen Standards ja sinnvoll sein, aber die Menschen fühlen sich auf Radfahrstreifen im Fahrbahnraum subjektiv nicht sicher, deshalb fahren sie lieber auf den Gehwegen oder nutzen gar nicht das Fahrrad. Die beste Radverkehrsinfrastruktur ist die, auf der sich die Radfahrenden subjektiv sicher führen – und dazu gehörte eine klare bauliche Trennung von der Kfz-Fahrbahn. Da ist etwas dran – tatsächlich lässt die Akzeptanz von im Fahrbahnraum abmarkierten Radfahr- bzw. Angebotsstreifen häufig zu wünschen übrig. Und natürlich gibt es auch Radfahrstreifen, die schlicht schlecht ausgeführt sind, zu schmal, ohne Sicherheitsstreifen vor parkenden Autos, schlecht erkennbare Markierung. Die fehlende Akzeptanz hat aber vor allem damit zu tun, dass der parallel fahrende Autoverkehr trotz einer eigenen Fläche für den Radverkehr von vielen Radfahrenden (durchaus bei weitem nicht von allen!) als zu gefährlich und unangenehm empfunden wird. Und ganz plötzlich sind wir bei einer Forderung, die in den 60er Jahren ganz erheblich zum Niedergang der Radverkehrsnutzung in Deutschland beitrug: oberster Grundsatz müsse die klare räumliche und bauliche Trennung aller Verkehrsarten sein.

Ist Radfahren auf der Fahrbahn wirklich so gefährlich?

Zu weit hergeholt? Es gibt genügend Beispiele nicht nur in Berlin, wo sich Bürgerinnen und Bürger aufregen, wenn alte Radwege auf Gehwegniveau zugunsten von Radfahrstreifen zurückgebaut werden. Das sind nicht nur Autofahrende, die sich über eine Flächenumverteilung zu ihren Lasten aufregen, sondern eben auch Menschen, die sich auf der alten Infrastruktur wohler gefühlt haben. Nun hatten die oben erwähnten Radverkehrslobbyisten ganz sicher nicht im Sinn, eine Rückkehr zu den alten unzureichenden Bordsteinradwegen zu propagieren. Aber inzwischen lässt sich das im öffentlichen Diskurs kaum noch voneinander trennen. Hängen bleibt (auch bei der Politik): Radfahren auf der Fahrbahn (auch auf Radfahrstreifen) ist gefährlich und damit schlecht, Radfahren auf baulich getrennten Anlagen (und notfalls auch auf dem Gehweg) ist sicherer und damit gut. Mit objektiven Fakten hat das nur wenig zu tun:

  • Es gibt keinerlei Beleg dafür, dass das Radfahren auf der Fahrbahn (möglichst auf abmarkierten eigenen Flächen) grundsätzlich gefährlicher ist als das Radeln auf baulich getrennten Wegen möglichst weit weg vom Autoverkehr.
  • Im Gegenteil: die Hauptkonfliktpunkte zwischen Auto- und Radverkehr (und auch die Unfallorte) sind nach wie vor die Stellen, wo Auto- und Radverkehr sich kreuzen: an Einmündungen, Kreuzungen und Grundstückszufahrten. Unfälle im Längsverkehr spielen dagegen eine eher untergeordnete Rolle. Bei baulich abgesetzten Radverkehrsanlagen treten diese Konfliktpunkte in der Regel häufiger auf.
  • Baulich abgesetzte Radverkehrsanlagen führen immer noch tendenziell eher zu Nachteilen für den Fußverkehr – dem nach wie vor schwächsten Glied in der Verkehrsplanung.
  • Wenn bei Markierungslösungen qualitativ hochwertige Maßstäbe angesetzt werden (keine Mindest- sondern eher Übermaße, auch nachts gut sichtbare Dauermarkierungen, ggf. Einfärbung in bestimmten Situationen etc.), dann haben diese Maßnahmen in der Regel deutliche Sicherheitsvorteile.
  • Wenn es bei Radverkehrsanlagen im Fahrbahnraum zu Konflikten oder zu Unsicherheitsgefühlen kommt, dann liegt es im Regelfall nicht an der Infrastruktur selber, sondern am individuellen Fehlverhalten Dritter, in der Regel der Autofahrenden (zu geringer Sicherheitsabstand, zu hohe Fahrgeschwindigkeiten, illegales Parken und Halten auf Radverkehrsanlagen, Unachtsamkeit beim Türenöffnen etc.).

Die Kapitulation vor dem Autoverkehr?

Und damit sind wir beim eigentlichen Knackpunkt der Diskussion. Wenn wir vor diesem Fehlverhalten kapitulieren und Radverkehrsplanung nur noch danach ausrichten, wo sich alle Radfahrenden „subjektiv sicher“ fühlen, dann haben wir den Kampf gegen die Übermacht des Autoverkehrs bzw. seiner negativen Auswirkungen eigentlich schon verloren. Wir fallen zurück in eine rein sektorale Betrachtung der Verkehrsarten. Eigentlich führen wir genau die falsche Diskussion. Warum reden wir nicht über die folgenden Themen:

  • Wir brauchen endlich ein grundsätzlich anderes, stadtverträgliches Geschwindigkeitsniveau in den Städten. Die Kommunen benötigen mehr Spielräume, um gerade dort, wo viel Radverkehr unterwegs ist, auch auf Hauptverkehrsstraßen 30 km/h als zulässige Höchstgeschwindigkeit anordnen zu können.
  • Zu geringer Sicherheitsabstand, illegales Parken und Halten auf Radverkehrsanlagen, zu schnelles Fahren sind keine Kavaliersdelikte. Wir brauchen schärfere Sanktionierungen, eine höhere Überwachungsdichte und ggf. auch neue Regeln in der StVO (z. B. dass beim Überholen von Radfahrenden generell der eigene Fahrstreifen verlassen werden muss, da der erforderliche Sicherheitsabstand sonst nicht eingehalten werden kann).
  • Und last not least: wir müssen das dicke Brett der Kommunikation mit dem Ziel eines veränderten Verkehrsverhaltens viel intensiver bohren, als das bisher passiert ist. Wir brauchen viel mehr Kommunikationskampagnen, Initiativen im Bereich der Mobilitätserziehung, positive „role models“ etc., die die Notwendigkeit von mehr gegenseitiger Rücksichtnahme, von defensivem Fahrverhalten, von Regelbeachtung vermitteln. Das ist ein Veränderungsprozess, der Jahrzehnte benötigt. Aber deshalb darf man nicht davor kneifen. Nachhaltige Verkehrspolitik ist mehr als Infrastrukturplanung.

Es bedarf deshalb dringend eines Innehaltens und einer Neuausrichtung der Diskussion um die Art und Weise, wie die Radverkehrsinfrastruktur in unseren Städten aussehen soll. Wir müssen diese Diskussion übergreifend und integriert führen und dabei den gesamten Straßenraum und sein Erscheinungsbild im Blick haben. Wir dürfen objektive Fakten nicht herunterspielen und das subjektive Gefühl zum alleinigen Maßstab des Handelns machen. Das subjektive Sicherheitsgefühl muss natürlich ernstgenommen werden, vielleicht auch ernster als bisher, und Radverkehrsführungen im Fahrbahnraum müssen nicht immer die beste Lösung sein. Aber letztendlich – und das ist vielleicht entscheidend – kann man diesem Sicherheitsgefühl am ehesten Rechnung tragen, wenn man stärker regulierend auf das Fehlverhalten der Autofahrenden einwirkt und den städtischen Autoverkehr generell stadtverträglich macht und “domestiziert”, aber nicht durch eine Form der Radverkehrsinfrastruktur, auf der man sich vielleicht sicher fühlt (und entsprechend sorglos fährt), die es aber objektiv nicht ist.

Das aktuelle Diskussionsklima zu diesem Thema macht mich nicht unbedingt optimistisch, dass man diese Selbstbesinnung und einen differenzierteren Diskurs zwischen Öffentlichkeit, Politik und Fachebene erreichen kann. Und dann ist es leider nicht mehr weit bis zu einer anderen Argumentation aus den 60er Jahren: „besser ein schlechter Radweg als gar kein Radweg“. Wenn es dann noch Schule macht, auch in Tempo-30-Zonen wieder vermehrt separate Radverkehrsanlagen zu fordern und auch einzurichten, die dann aufgrund der gegebenen Straßenraumverhältnisse im Regelfall zu Lasten des Fußverkehrs angelegt werden, dann wird die Leo-Baeck-Straße in Berlin Steglitz-Zehlendorf endgültig kein Einzelfall mehr gewesen sein. Und freuen kann sich dann nur: der Autoverkehr.