Retten die neuen Elektrotretroller unser Klima oder sind sie nur eine lästige Plage und vermüllen den öffentlichen Raum? Ist ein SUV ein Auto wie jedes andere auch oder gehört es als Teufelszeug sofort verboten? Ist es für radelnde Menschen noch zumutbar, sich im Mischverkehr auf der Fahrbahn zu bewegen oder brauchen wir überall separierte und geschützte Radfahrstreifen? Und überhaupt: haben wir überhaupt noch Zeit zum Reden oder geht es nur noch ums Handeln? Entweder-oder-Themen allüberall…

Die polarisierte Verkehrswendediskussion

Die Polarisierung der Gesellschaft hat längst auch das Thema Mobilität und Verkehr erreicht, vielleicht war sie dort auch schon immer ziemlich ausgeprägt. Die Rollen von „gut“ und „böse“ sind schnell verteilt. Die einleitend genannten Einzelthemen sind nur Beispiele: es erscheint immer schwerer, sich im öffentlichen Diskurs auf die Komplexität einer Thematik einzulassen bzw. diese zu vermitteln. Ist diese Polarisierung unvermeidbar? Oder vielleicht sogar notwendig, um überhaupt irgendetwas zu verändern?

Anfang September dieses Jahres durfte ich beim Baukulturdialog „Mobilität der Zukunft“ der Bundesstiftung Baukultur in Kassel einen Vortrag halten, der sich mit der Umsetzung und Implementierung innovativer Mobilitätskonzepte befassen sollte. Oder als Frage formuliert: warum tun wir uns so schwer, als richtig erkannte Strategien zum klima-, umwelt- und menschengerechten Umbau unseres Mobilitätssystems auch in erlebbare Realität zu überführen? In dem Vortrag plädierte ich dafür, in den Diskussionen um die Mobilitäts- und Verkehrswende den Forderungen und Ansprüchen der jeweils „anderen“ Seite nicht sofort die Legitimität abzusprechen, sondern zumindest zuzuhören, sich damit auseinanderzusetzen und mehr „Grautöne“ zuzulassen. Es gehe darum, die unterschiedlichen Blasen zu verlassen, in denen sich viele Akteure befinden (auf Seiten der Autolobby, aber auch mancher Protagonisten der Verkehrswende), um überhaupt Dinge substanziell voranzubringen. Das trug mir in der abschließenden Diskussion einige Kritik ein. Der Begriff „grau“ wurde offenbar eher mit Mutlosigkeit, Weichspülen, Formelkompromissen und „weiter so“ assoziiert als mit Differenzierung, Zwischentönen und Auseinandersetzung mit Komplexität. Und überhaupt: man müsse „einfach mal machen“. Kopenhagen & Co. hätten ja bewiesen, dass das geht.

Lernen aus der Vergangenheit – Kassel 1993

Das hat mich ziemlich zum Nachdenken gebracht. Verliere ich im Bemühen um pragmatische und möglichst konsensfähige Lösungen im Sinne eines Aushandlungsprozesses den Blick für die Dringlichkeit der Veränderung? Gehe ich damit im Grunde denen, die gar nichts ändern wollen („schwarz“), auf den Leim? Blockiere ich notwendigen disruptiven Wandel („weiß)“? Ach, wenn es doch so einfach wäre… In dem erwähnten Vortrag habe ich auch auf mein eigenes Planerleben zurückgeblickt. 1991 hatte ich meine erste Stelle als Verkehrsplaner bei der Stadt Kassel angetreten. Dort war ein Jahr zuvor ein neuer Generalverkehrsplan beschlossen worden, für seine Zeit sehr fortschrittlich und auch heute in seinen Zielsetzungen und Maßnahmen noch erstaunlich modern und aktuell: Vorfahrt für den Umweltverbund, 20% weniger Autoverkehr, Abbau von Parkplätzen, Beschleunigung und Ausbau des ÖPNV… Vor 30 Jahren! 1993 gab es dann eine Kommunalwahl, bei der die bis dahin regierende SPD in der Wählergunst 20% verlor – und damit auch die Macht. Und die am meisten verbreitete Erklärung lautete: es lag an der Verkehrspolitik. Was war geschehen? Eine hochengagierte Verwaltung hatte begonnen, eine Vielzahl von Maßnahmen im Sinne einer städtischen Verkehrswende auf den Weg zu bringen, von der Entwicklung eines Radroutennetzes über den Umbau von Hauptverkehrsstraßen bis zu neuen Straßenbahnstrecken. Ein zentrales Projekt war die möglichst rasche flächendeckende Ausweisung von Tempo 30 in Wohngebieten, heute eine Selbstverständlichkeit, damals vielerorts noch revolutionär. Da seinerzeit nach der StVO eine Ausweisung von Tempo-30-Zonen noch mit baulichen Maßnahmen begleitet werden musste, es in Kassel aber schnell gehen sollte, wurden dort in den Eingangsbereichen der Zonen sowie an Kreuzungen und Einmündungen lediglich Sperrflächen markiert und diese durch rot-weiße (Rund-)Baken gesichert (vom Volksmund „Lollis“ genannt) – funktional, aber hässlich. Trotz umfassender Beteiligung und Öffentlichkeitsarbeit regte sich immer mehr Widerstand und Protest gegen die Maßnahmen (die eigentlich faktisch für den Autoverkehr kaum Einschränkungen bedeuteten), bis das Thema den Kommunalwahlkampf beherrschte – mit dem oben genannten Ergebnis.

Für mich war damals eine zentrale Erkenntnis: wir wollten als Verwaltung zu schnell zu viel. Die Stadtgesellschaft war nicht so weit, wie wir uns das gewünscht hatten. Wir waren selber in einer Blase der „Guten“ und haben so unfreiwillig dazu beigetragen, dass für Kassel in den Folgejahren in mancher Hinsicht verkehrspolitisch (insbesondere bezüglich Einschränkungen für den Autoverkehr) Stagnation herrschte.

„Schwarz-weiße“ Konfrontation oder „grauer“ Prozess?

Ist so etwas heute noch denkbar? Ich befürchte, ja. Natürlich hat sich vieles geändert, auch im Bewusstsein vieler Menschen. Aber die Qualität des (vor allem politischen) Diskurses scheint mir trotz aller Beteiligungskultur nicht wesentlich besser geworden zu sein, gepaart mit zunehmender Polarisierung und Tendenz zu Populismus auch in der verkehrspolitischen Debatte – auf allen Seiten. Und das ist für mich ein großes Problem. Angesichts der Herkulesaufgabe, die vor uns liegt, brauchen wir mehr denn je einen breiten und offenen Diskurs, um den notwendigen gesellschaftlichen Grundkonsens zu erreichen, aber nur wenige kümmern sich darum. Das heißt nicht, dass Polarisierung immer nur negativ sein muss. Manche Themen kommen nur so in ausreichendem Maße in das öffentliche Bewusstsein. Der Volksentscheid Fahrrad in Berlin etwa hat stark auf Polarisierung gesetzt, vermutlich nur so die gewünschte mediale Aufmerksamkeit erreicht und ganz gewiss entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Finanz- und Personalausstattung zu diesem Thema in der Verwaltung sehr schnell umfassend verbessert hat. Aber darüber hinaus? Nutzt man die gewonnene einmalige Chance, um einen wirklichen gesellschaftlichen Wandel auf den Weg zu bringen? Auch in Berlin ist es mit einem breiten stadtgesellschaftlichen Diskurs zur Verkehrswende mit dem Ziel eines Konsenses bislang nicht weit her, Kommunikationsstrategien seitens des Senats sind kaum erkennbar, viele Akteure verharren in ihren Blasen (oft auch räumlicher Art – es gibt nicht nur die Berliner Innenstadt). Andere Städte sind da teilweise weiter (die Kommunen sind ohnehin die Ebene, wo noch vergleichsweise viel passiert), auf Bundesebene sieht es hingegen noch düsterer aus.

Wenn es diesen Diskurs nicht gibt, dann gibt es auch keine gemeinsamen positiven Bilder von der Zukunft. Und umso leichter fällt es dann etwa Bundesverkehrsminister Scheuer, sich als den großen Innovator zu sehen, der glaubt, allein mit Geld und neuen Angeboten die Probleme lösen zu können, um parallel der anderen Seite den Stempel von Verbot und Verzicht aufzudrücken – Schwarz-Weiß-Denken der reinsten Prägung. Dabei ist es eigentlich genau umgekehrt. Das vom Minister gepredigte und mit technologischer Innovation verbrämte „weiter so“ wird die Probleme für die Städte nicht lösen. Angebote allein werden nicht ausreichen, um den Wandel zu schaffen. Aber wo sprechen wir ernsthaft alle gemeinsam über den langen steinigen Weg dieses Wandels? Es geht schließlich um einen grundlegenden Transformationsprozess, für den wir nicht nur politische, sondern auch gesellschaftliche Mehrheiten brauchen. Es bleibt dabei: wir müssen raus aus der Polarisierungsfalle.

Noch einmal zu den zu Beginn genannten Beispielen – wie ist es da mit schwarz, weiß und vielleicht grau?

  • Am klarsten erscheint das vielleicht für das Thema SUV. Diese Autos sind definitiv keine stadtverträglichen Fahrzeuge und stehen hinsichtlich Verbrauch, Gewicht und Flächeninanspruchnahme sozusagen sinnbildlich für das negative Gegenbild zur Verkehrswende. Gleichwohl: es hilft kaum, alle SUV-Besitzer pauschal zu Bösewichten zu erklären. Auch da gilt es, sich mit ihren Motiven auseinanderzusetzen (so banal sie vielleicht klingen mögen – etwa dem subjektiven Gefühl der höheren Sicherheit oder der bequemeren höheren Einstiegs- und Sitzposition) und daraus die Maßnahmen abzuleiten, die dazu führen, dass diese Fahrzeuge nach und nach aus dem Stadtverkehr verschwinden, insbesondere beim Thema Verkehrssicherheit.
  • Dass die Elektrotretroller die Heilsversprechen insbesondere der Betreiber von Sharingsystemen kaum erfüllen werden, liegt auf der Hand. Sie sind allenfalls ein kleiner Baustein im Verbund eines breiten Spektrums an Mobilitätsangeboten. Aber auf der anderen Seite sie nach nur wenigen Wochen in Grund und Boden zu verdammen, ist genauso kurzsichtig. Den öffentlichen Raum belasten geparkte Autos immer noch um ein Vielfaches mehr als Leihroller oder -fahrräder. Und am richtigen Ort eingesetzt können sie vielleicht tatsächlich verknüpft mit dem ÖPNV die eine oder andere Autofahrt ersetzen (die Agora Verkehrswende hat übrigens zusammen mit Deutschem Städtetag und Deutschem Städte- und Gemeindebund kürzlich eine Handreichung für Kommen herauszugeben, um die Diskussion zu den Elektrotretrollern zu versachlichen, mehr dazu hier).
  • Und die Frage der Radverkehrsinfrastruktur? Natürlich brauchen wir vor allem an den großen Straßen mehr und bessere Radverkehrsinfrastruktur. Aber bei all den vielfältigen Ansprüchen an den knappen öffentlichen Raum führt die sektorale Betrachtung der einzelnen Verkehrsarten mit entsprechenden Flächenzuweisungen auf Dauer in die Sackgasse. Für kleinere und kompaktere Städte sind Forderungen nach breiten geschützten Radverkehrsanlagen ohnehin auch an Hauptverkehrsstraßen kaum umsetzbar, ganz abgesehen von städtebaulichen Aspekten. Auf lange Sicht muss auch der Mischverkehr (wieder) eine Zukunft haben, begleitet durch eine nachvollziehbare Regulierung, vor allem niedrigere Höchstgeschwindigkeiten im Kfz-Verkehr.

Die Verkehrswende ist – bunt

Was heißt das für mich als Gesamtfazit? Bei den meisten Themen und Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Mobilitäts- und Verkehrswende diskutiert werden, gibt es kein klares „weiß“ oder „schwarz“. Man muss immer genau hinschauen, einordnen, modifizieren – und daraus den Baustein destillieren, der im Gesamtbild am meisten hilft und vielleicht erstmal „grau“ ist. Ein mühsames Geschäft… Und für die großen politischen Leitlinien gilt das erst recht. Das geht nicht ohne den schon so oft erwähnten diskursiven Prozess, für den sich leider in der Regel niemand verantwortlich fühlt. Dabei könnte der dazu führen, dass wirklich breite Teile der Gesellschaft gemeinsam das notwendige positive Zukunftsbild entwickeln, das für die Umsetzung der Verkehrswende unabdingbar ist. Und das wäre ein ganz buntes Zukunftsbild: da geht es nicht um Verbot und Verzicht, wie von Herrn Scheuer unterstellt, sondern um neu gewonnene Freiheit, Lebensqualität, lebenswerte öffentliche Räume… Und um dahin zu kommen, brauchen wir einen ganz bunten Strauß von Maßnahmen aus ganz unterschiedlichen Bereichen, von Angeboten über die Regulierung bis zur Kommunikation (das zeigen übrigens allein schon die oben genannten Beispiele), getragen von einer konsistenten ressortübergreifenden Politik, beim Bund, in den Ländern und in den Kommunen. Und da dürfen auch Kompromisse Teil dieses Weges sein – wenn sie zielorientiert und konstruktiv helfen, die Sackgassen zu vermeiden.

Aber wie kommen wir auf diesen Weg? Gibt es Wege weg vom Schwarz-Weiß über das Grau hin zum Bunt? Die Schauspielerin Nora Tschirner hat jüngst in einem wunderbaren Interview mit der „Berliner Zeitung“ (mehr dazu hier, leider nur mit Registrierung) sehr viel sehr Bemerkenswertes dazu gesagt, wie man gesellschaftliche Spaltung überwinden kann, im Sinne einer „liebevollen Konfliktkultur“. Auch für die Diskussion um die Verkehrswende gilt, was Nora Tschirner mit den folgenden Worten auf den Punkt bringt:

„Natürlich ist es wichtig, ein gesellschaftspolitisches Thema voranzutreiben. Aber wenn mich interessiert, ob meine Botschaft ankommt, habe ich als Sender auch eine Verantwortung für mein Gegenüber. Interessiert mich denn überhaupt, ob der mich hört? Klar ist es dessen Verantwortung zuzuhören. Aber wenn ich sage, ich baller das jetzt hier hin, dann kann ich das nicht ernst nehmen. Wenn wir was für uns als Gruppe ändern wollen, müssen wir schauen, ob wir verstanden werden. Dafür braucht man Achtsamkeit, Besonnenheit und Zeit. Es gibt einfach zu viel Rumgeschreie und Rumgepoltere. Wenn man das anspricht, ist die Reaktion schnell: Das muss so sein. Nein, muss es nicht. So funktioniert Kommunikation nicht. Es wird zu schnell geschossen, diese Tonalität nervt und zermürbt. Sie raubt uns allen die Kraft. Wir müssen endlich wieder lernen, wie man anständig miteinander redet.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.