Das Coronavirus hält uns in Atem. Unser aller Leben hat sich binnen weniger Wochen in einem Maße umgekrempelt, wie es sich zu Beginn dieses Jahres wohl kaum jemand vorgestellt hat. Jede*r von uns erlebt das in Abhängigkeit von den jeweiligen Lebensumständen auf ihre/seine eigene Art und Weise und mit Einschränkungen in unterschiedlich großem Umfang. Sichtbar wird dies auch daran, wie wir mobil sind. Durch Kontaktverbot und Homeoffice sind wir weniger unterwegs, und dann meist mehr im Nahbereich um die Wohnung. Auf den Straßen ist plötzlich Platz, in den öffentlichen Verkehrsmitteln (meistens) ebenfalls, die Menschen fahren mehr Fahrrad. In den Städten ist die Luft sauberer, die Nächte sind stiller – so der allgemeine Eindruck.

Alles gut? Nicht wirklich.

Die Risiken

Es gibt Stimmen, die sagen, dies sei jetzt der Einstieg in eine wirkliche Verkehrswende, darauf könnten wir „nach Corona“ aufbauen. Aber ein Blick auf die bislang verfügbare Datenlage und die daraus ableitbaren möglichen Entwicklungen treiben einem eher Sorgenfalten auf die Stirn. Das Start-Up Motiontag hat anhand aus einer Handy-App ableitbaren Bewegungsdaten spannende Daten zum veränderten Mobilitätsverhalten während der Coronakrise in den deutschen Städten zusammengestellt (mehr dazu hier). Auch wenn zunächst ins Auge fällt, dass das Fahrrad offenbar zumindest relativ gesehen deutlich mehr genutzt wird, ist auch erkennbar, dass aufgrund des vergleichsweise starken Rückgangs der ÖPNV-Nutzung auch das Auto zu den „Gewinnern“ der aktuellen Situation zählt – relativ ist sein Anteil bei der Verkehrsmittelwahl trotz des absoluten Rückgangs an Kfz-Fahrten eher gewachsen. Bestätigt wird dies durch aktuelle Zahlen aus Berlin, sowohl bezüglich des zwar spürbaren, aber nicht umwerfenden Rückgangs beim Kfz-Verkehr (hier mehr zu den entsprechenden Infos der Verkehrsinformationszentrale Berlin) als auch zu den Einbrüchen bei den Fahrgastzahlen im ÖPNV, sie sich auch z. T. dramatisch auf die Fahrgeldeinnahmen auswirken (mehr dazu hier).

Je länger der Shutdown andauert, desto größer erscheint die Gefahr, dass sich solche Trends verfestigen und auch nach einer Rückkehr zur Normalität Auswirkungen auf das Mobilitätsgeschehen haben werden. Besonders hohen Risiken ist dabei der ÖPNV, das Rückgrat der Verkehrswende, ausgesetzt. Zwar sind im Regelfall die Bestellleistungen der Aufgabenträger durch langlaufende Verkehrsverträge nicht gefährdet. Aber die weggebrochenen Fahrgeldeinnahmen beeinflussen die Wirtschaftlichkeit des Betriebs erheblich. Wenn dann noch die Fahrgäste nur zögerlich zu den öffentlichen Verkehrsmitteln zurückkehren sollten, verstärkt sich dieses Problem noch. Die immense Belastung der öffentlichen Haushalte könnte außerdem dazu führen, dass dringend notwendige Investitionen in die ÖV-Infrastruktur ebenso verschoben werden wie Angebotsverbesserungen.

Parallel dazu könnte das Auto seinen Reiz als vermeintlich sicheres individuelles Verkehrsmittel noch eine Weile behalten. Wenn dazu jetzt noch regulatorische Maßnahmen aufgeweicht werden (die Forderung nach einer Aussetzung der Erhebung von Parkgebühren wird ja teilweise schon erhoben), könnte sich da eine aus Sicht von urbaner Lebensqualität und Klimaschutz fatale Negativspirale in Gang setzen. Auch eine weitere Stärkung des Radverkehrs, so sinnvoll sie auf jeden Fall ist, könnte das nicht auffangen. Und wenn sich dann noch die Automobilbranche sich auch nur teilweise mit ihren Forderungen nach einer Aufweichung der CO2-Emissionsstandards durchsetzt (mit Verweis auf die „Systemrelevanz“ der Branche), könnte der Klimaschutz auf lange Sicht der große Verlierer dieser Krise sein. Dabei gilt: wenn ein Verkehrsträger eine besonders hohe „Systemrelevanz“ beim Klimaschutz hat, dann der öffentliche Verkehr.

Alles schlecht? Nein, auch das nicht.

Die Chancen

Trotz dieser kritischen Entwicklungsperspektive bietet die jetzige Krise aber auch eine unverhoffte Chance. Das, was die Politik in den vergangenen Jahren nicht bzw. nur unzureichend geschafft hat, nämlich eine bildstarke Vision zu entwickeln, welchen Mehrwert eine Verkehrswende für alle Menschen in den Städten bringen kann, scheint plötzlich vielerorts auf (und auch, wie man das vielleicht erreichen kann):

  • Es wird sichtbar, welch riesige Flächen wir dem Autoverkehr opfern und wie wenig effizient diese Flächennutzung ist. Und wir können zumindest erahnen, was autoarme öffentliche Räume für Qualitäten haben könnten, wenn man sie entsprechend gestalten würde. Viele Menschen entdecken ihre Quartiere aus einer anderen Perspektive neu, der der Fußgänger*innen.
  • Das gilt auch für die städtebaulichen Qualitäten des Wohnumfelds. Plötzlich erleben auch diejenigen, die bislang ihren Wocheneinkauf im Regelfall mit dem Auto im Einkaufszentrum erledigt haben, welchen Wert gemischte Nutzungsstrukturen mit einer funktionierenden Nahversorgung haben. Und sie merken, wie wichtig großzügige Flächen für den Fußverkehr und hochwertige wohnungsnahe Freiräume
  • Last not least: das für viele erzwungene Homeoffice legt einerseits schonungslos die Defizite bei vielen Arbeitgebern (insbesondere den öffentlichen) bei der Digitalisierung der Arbeitswelt offen. Andererseits erkennen manche jetzt auch die Chancen, die selbige bietet. Telefonkonferenz und Videochat müssen keine Notlösung sein – sie können auch auf Dauer so manche „richtige“ Besprechung ergänzen und ggf. sogar zu besseren Ergebnissen führen, bei einem Gewinn an Effizienz und gleichzeitig eingespartem Verkehrsaufwand – diese Liste ließe sich fortsetzen.

Alle drei Aspekte sind beispielhaft genannt, sie illustrieren aber zugleich drei ganz zentrale Elemente, die für ein Gelingen der Mobilitäts- und Verkehrswende unabdingbar sind:

  • Die Gestaltung der öffentlichen Räume (als unserem „Außenwohnzimmer“) ist entscheidend für die Wahrnehmung des Mehrwerts der Verkehrswende für alle – und damit auch deren Akzeptanz.
  • Eine integrierte Betrachtung von Stadt- und Verkehrsentwicklung und deren Steuerung im Sinne einer nachhaltigen Mobilität sichernden und Verkehrsaufwand sparenden „Stadt der kurzen Wege“ ist wichtiger denn je. Das Schlimmste, was „nach Corona“ passieren könnte, wäre ein undifferenziertes Infragestellen von Dichte und eine daraus resultierende Rückkehr zu einer „Stadt“-vorstellung mit dem eigenen Häuschen als „sicherem Hafen“ als Ideal.
  • Digitalisierung kann, klug und gezielt genutzt, einen wichtigen Beitrag für nachhaltige urbane Mobilität leisten. Dabei geht es auch um Anwendungen direkt im Mobilitätsbereich, vor allem aber auch um die zielgerichtete Verbesserung von Arbeits- und Lebenswelten, die verkehrsaufwandsmindernde Strukturen fördern, ohne einer sozialen Isolation Vorschub zu leisten.

Was tun?

Wir wünschen uns alle aus verschiedenen Gründen eine möglichst rasche Rückkehr zur Normalität. Aus Sicht der Mobilitäts- und Verkehrswende steht dabei vor allem ein Vermeiden der oben beschriebenen negativen Spirale im Vordergrund. Aber noch haben wir den „Shutdown“, der uns aber nicht zur Untätigkeit verurteilt:

  • Das reduzierte Verkehrsaufkommen in den Straßen bietet die einmalige Chance, durch temporäre Maßnahmen sichtbar zu machen, welche Potenziale die bislang dem Auto vorbehaltenen Flächen für eine nachhaltigere Mobilität, aber auch für die Lebensqualität insgesamt bieten. Die in Berlin momentan u. a. nach dem Vorbild von Bogotá entstehenden „Pop-Up-Bikelanes“ sind da ein gutes Beispiel, anderswo passiert Ähnliches. Wichtig ist, zunächst den temporären Charakter der Maßnahmen und die Begründung aus dem Corona-Zusammenhang heraus zu betonen (Abstand halten, Sicherheit). Der Eindruck, die Corona-Krise ausnutzen zu wollen, um eine schon lange geplante Agenda umzusetzen, sollte vermieden werden.
  • Sobald das Kontaktverbot gelockert ist, aber das Verkehrsvolumen noch deutlich reduziert bleibt, sollten solche temporäre Maßnahmen auch für die Steigerung von Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum genutzt werden, z. B. Gehwegerweiterungen, Platzumgestaltungen – die Chance, dies relativ einfach zu realisieren, dürfte bald wieder vorbei sein.
  • Die jetzige Phase sollten wir aber auch dafür nutzen, endlich mehr an dem Narrativ zu arbeiten, wo wir denn eigentlich hin wollen in unseren Städten, im Hinblick auf nachhaltige Mobilität, Lebensqualität und Klimaschutz. Wir reden auch jetzt immer noch meist nur über die Instrumente, als seien sie das Ziel. Wir brauchen starke Visionen und Bilder. Luisa Neubauer hat dies kürzlich in einem bemerkenswerten Gespräch mit der „Berliner Zeitung“ so beschrieben: „Zu wissen, was man nicht will, reicht nicht. Wir müssen wissen, was wir wollen. Wir brauchen Gegenentwürfe, Verheißungsvolles.“

Und wenn dann alles vorbei ist? Dann kommt die eigentliche Herausforderung. Dazu zum jetzigen Zeitpunkt nur ein paar erste Stichworte:

  • Wir brauchen einen ganz starken politischen Fokus auf dem öffentlichen Verkehr, insbesondere was die Ressourcen angeht. Das Angebot muss so rasch wie möglich wieder auf die vorherige Qualität hochgefahren werden – und es darf dabei nicht bleiben. Notwendige Investitionen in seinen Ausbau dürfen sich nicht verzögern und sie müssen auch Lehren aus der Corona-Krise ziehen: großzügigere Fahrgasträume mit mehr Bereichen, die auch Distanz zu lassen (nicht immer mehr Sitze in einen Wagen pressen wie zuletzt bei der ICE-Entwicklung), auch daraus resultierend mehr Rollmaterial und Personal, mehr und schnellere Investitionen in die Digitalisierung der Schieneninfrastruktur, um kürzere Zugfolgen zu ermöglichen etc.
  • „Push“-Maßnahmen zur Regulierung des individuellen Autoverkehrs sind wichtiger denn je, um einen „Rollback“ zurück zu einer stärkeren PKW-Nutzung dauerhaft zu verhindern (Parken, Geschwindigkeiten etc.)
  • Aus den (hoffentlich in den nächsten Wochen noch vielfältig sprießenden) temporären Pilotprojekten müssen Schlussfolgerungen gezogen werden, wie und mit welchen begleitenden Diskursverfahren so etwas in die Fläche gebracht und dauerhaft eingerichtet werden kann. Hilfestellung für solche temporären Maßnahmen bietet eine neue Veröffentlichung des Umweltbundesamts zu Quartiersmobilität (Downloadmöglichkeit hier).
  • Und schließlich: das „Vordenken“ in der Krisenphase muss in einen breiten gesellschaftlichen Dialog überführt werden. Der Präsident des Umweltbundesamts Dirk Messner hat dies jüngst in einem Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung“ so zusammengefasst: „Was die Gesellschaft jetzt sucht, ist Orientierung, sind Wege in eine bessere Zukunft. Und die können und müssen wir beschreiben.“

Kein Fazit

Allgemeingültige Schlussfolgerungen zu ziehen verbieten sich angesichts der Dynamik der derzeitigen Entwicklung und der vielfältigen Ungewissheiten. Aber wir müssen auch im „Shutdown“ nicht stillhalten – es gibt gerade jetzt viel zu tun, um die Mobilitäts- und Verkehrswende nachhaltig abzusichern. Und auch wenn manche der oben dargestellten denkbaren Entwicklungstrends vielleicht pessimistisch klingen: ich bin tatsächlich im Grundsatz optimistisch. In der Gesellschaft ist in den letzten Jahren im positiven Sinne schon viel passiert. Jetzt müssen wir dranbleiben, die Risiken der jetzigen Situation minimieren und die Chancen nutzen. Los geht’s.