Nach einem so außergewöhnlichen Jahr wie diesem eine Bilanz zu ziehen, wo wir gerade bei der Mobilitäts- und Verkehrswende stehen, ist nicht leicht. Unverhoffte „windows of opportunity“ stehen sich ebenso unverhofften Rückschlägen gegenüber. Gleichzeitig geht der Klimawandel ungebremst weiter und das Diskursklima für den Wandel ist nicht unbedingt besser geworden. Aber wann, wenn nicht jetzt, darf man sich etwas wünschen (auch als unverbesserlicher Optimist, der daran glaubt, dass die Welt nicht so schlecht ist, wie es manchmal scheint)? Also: hier ist mein bescheidener „Verkehrswende-Wunschzettel“ für das kommende Jahr:

  • Eines der zentralen Probleme bei der nachhaltigen Implementierung der Mobilitäts- und Verkehrswende ist die politische Inkonsistenz auf den unterschiedlichen föderalen Ebenen. Dies adressiert vor allem den Bund, in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist er verantwortlich für einen Rechtsrahmen, der insbesondere die Kommunen in ein Korsett schnürt, das die notwendigen Spielräume für den Wandel vor Ort erheblich einschränkt. Das beschämende Gerangel um die (ohnehin noch unzureichende) Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) ist dafür nicht das einzige Beispiel (die dringende Reformbedürftigkeit des Bundesverkehrswegeplans wäre ein ganz eigenes Thema). Zum anderen signalisiert der Bund trotz der einen oder anderen gegenteiligen Bekundung immer noch viel zu häufig den Bürger*innen, dass es mit einem modifizierten „weiter so“ im Grunde auch gehen wird. Neue Antriebstechnologien hier, ein bisschen Digitalisierung dort – mehr braucht es eigentlich nicht. Für die Kommunen, die in ihren Städten aus guten Gründen einen fundamentalen Wandel bei der Gestaltung der Mobilität vor Ort herbeiführen wollen, ist das ein fatales Signal und schwächt sie in ihrer Argumentation gegenüber der Stadtgesellschaft. Das muss sich in der kommenden Legislaturperiode nach den Wahlen umgehend ändern! Die vom VCD initiierte Diskussion um ein Bundesmobilitätsgesetz kann da ein wichtiger Baustein sein. Basierend auf wenigen wichtigen, aber klar formulierten Leitzielen und Maßgaben zur Anpassung anderer rechtlicher Vorschriften kann ein solches Gesetz wesentliche Barrieren für den notwendigen Wandel abbauen.
  • Wir begreifen die Mobilitäts- und Verkehrswende vielfach noch immer zu wenig als komplexen Transformationsprozess. Es ist nicht damit getan, einen Maßnahmenkatalog abzuarbeiten, und mag der noch so fortschrittlich sein. Unsere Gesellschaft ist vielfältig, mit Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenslagen, die adressiert werden müssen – sonst fehlt das Fundament für den Wandel. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat dies jüngst in einem neuen Positionspapier so ausgedrückt: „Transformationspolitik kann sich nicht auf Investitions- und Technologiepolitik beschränken. Sie beeinflusst den Lebensalltag der Bürgerinnen und Bürger und erfordert positive Perspektiven für die konkrete Lebenswelt.“ Oder anders ausgedrückt: wir brauchen einen breiten Diskurs zur Entwicklung solcher positiven Zukunftsbilder, der die gesellschaftlichen Gruppen, die den Wandel ablehnen oder fürchten, nicht ignoriert, sondern ausdrücklich einbezieht und vermittelt, warum letztendlich wir alle vom Wandel profitieren. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe – aber sie deshalb nicht anzugehen (auch da glänzt leider vor allem der Bund durch Inaktivität) hilft nicht weiter.
  • Aber auch wir, die wir uns selber als Protagonisten der Mobilitäts- und Verkehrswende begreifen, müssen uns an die eigene Nase fassen. Zu oft verharren wir in der Selbstgewissheit, dass wir „die Guten“ sind, und erachten es für nicht wirklich notwendig, das zu erklären. Wenn dieses Selbstgefühl dann auch noch mit moralischer Rigorosität verbunden kommuniziert wird, macht es eher Gesprächstüren zu anstatt sie zu öffnen. Um nicht missverstanden zu werden: Die Mobilitäts- und Verkehrswende braucht einen moralischen Kompass – aber sie braucht keinen besserwisserischen moralischen Zeigefinger. In der „Bubble“ ist es bequem, aber man vertut damit eine Chance. Es gibt viele großartige zivilgesellschaftliche Bottom-Up-Projekte, die versuchen, den Mehrwert des Wandels für alle sichtbar zu machen (wie sie z. B. die „Initiative Mobilitätskultur“ unterstützt). Mehr davon!
  • Mobilitäts- und Verkehrswende ist mehr, als sektoral die Verhältnisse für einzelne Verkehrsarten zu verbessern. Pop-Up-Bikelanes und ähnliche Maßnahmen haben in diesem Corona-Sommer wunderbar deutlich gemacht, dass öffentlicher Straßenraum auch anders aussehen kann – das war unglaublich wertvoll. Aber gleichzeitig durchlebt der öffentliche Nahverkehr eine seiner größten Krisen – und es ist ungewiss, wann diese überwunden sein wird. Gerade was das Thema Klimaschutz angeht, muss der ÖPNV eine zentrale Rolle übernehmen. Selbst wenn die Anteile von Fuß- und Radverkehr an der (für die CO2-Emissionen entscheidenden) Verkehrsleistung sich bundesweit verdoppeln sollten, so liegt dieser Anteil für beide zusammen dann erst bei 10%. Natürlich müssen Fuß- und Radverkehr umfassend gefördert werden, allein schon aufgrund ihrer Bedeutung für die Lebensqualität in den Städten – als Teil einer intergrierten Mobilitätswendestrategie. Dennoch gilt angesichts der aktuellen Entwicklungen (auch um eine mögliche Renaissance des privaten Autoverkehrs aufgrund der Corona-Pandemie zu vermeiden): Die Unterstützung für den öffentlichen Nahverkehr (nicht nur seine Stabilisierung, sondern auch seine Weiterentwicklung, was Qualität und Angebotsformen betrifft) war vielleicht noch nie so wichtig wie jetzt.
  • Die Kreativität und Vielfalt, mit der in diesem Jahr zahlreiche temporäre Umnutzungsprojekte für den öffentlichen Raum in unseren Städten initiiert worden sind und den Nutzen des Wandels sichtbar gemacht haben, dürfen nicht verloren gehen! Dies muss ermutigt, weiterentwickelt und vor allem auch in andere Teile der Stadt getragen werden – es geht nicht nur um die Innenstädte. Solche temporären Lösungen können und sollen auch verstetigt werden, auf der Basis ergebnisoffener Evaluation und nachvollziehbarer Abwägung von Vor- und Nachteilen – Letzteres steigert die Akzeptanz und erleichtert letztendlich die Skalierung.
  • Zum eben schon angesprochenen räumlichen Fokus: Im Urbanen Raum wird sich der Erfolg der Mobilitäts- und Verkehrswende letztendlich nicht in den Innenstädten entscheiden, sondern außerhalb davon. Dort leben die meisten Menschen (viele davon in autoaffinen Lebenslagen), dort muss sich am meisten ändern. Das gilt auch für Städte wie Berlin, wo 70% der Bevölkerung außerhalb des S-Bahn-Rings lebt. Politische Energie, Ressourcen und mediale Aufmerksamkeit allein auf die Forderung und Realisierung von autofreien Innenstädten o. ä. zu konzentrieren, greift viel zu kurz – so sinnvoll solche Maßnahmen sein können, auch um Sichtbarkeit zu schaffen. Und dann gibt es ja nicht nur die großen Städte! Die Diskussion um die Mobilitätswende vernachlässigt immer noch den ländlichen Raum und die Klein- und Mittelstädte. Dass das Pendeln im regionalen Kontext (nicht nur im Berufs-, auch im Freizeitverkehr!) in seiner jetzigen Form eines der zentralen Probleme ist, hat sich immerhin so langsam herumgesprochen. Aber von wirksamen Lösungen sind wir vielerorts noch weit entfernt. Hier brauchen wir neue planerische, finanzielle, regulative und organisatorische Instrumente (Zuständigkeiten und Kooperationen!), auch bei der Siedlungsentwicklung als entscheidender Einflussgröße (dass seit Beginn der Corona-Pandemie der Einfamlienhausmarkt so gut wie leer gekauft ist, macht Angst…)
  • Last not least – es gibt keinen einfachen und geraden Weg für die Mobilitäts- und Verkehrswende. Oft wird gesagt: „Der Klimawandel macht keine Kompromisse.“ Es stimmt: der Klimawandel macht keine Kompromisse und man kann mit ihm nicht darüber verhandeln, ob er sich noch ein bisschen Zeit lassen will. Aber man muss darüber verhandeln können, was der richtige Weg dahin ist. Und dazu werden auch Kompromisse gehören, weil beträchtliche Teile der Gesellschaft bislang nicht bereit sind, einen absoluten Vorrang des Klimaschutzes bei Abwägungsprozessen zu akzeptieren. Wenn – und damit sind wir wieder am Anfang – wir den nötigen Wandel nicht auf Basis eines diskursiven Transformationsprozesses schaffen, geht diese Gesellschaft kaputt. Wir brauchen klare und ambitionierte Ziele und eine glaubwürdige Strategie, wie wir dahin kommen. Aber ohne den nötigen Schuss Pragmatismus werden wir auf diesem Weg scheitern.

 

Sind das zu viele, zu anspruchsvolle Wünsche? Vermutlich… Wie auch immer:

Frohe Weihnachten und ein gesundes, glückliches neues Jahr 2021!