Jetzt geht es also los mit den konkreten Koalitionsverhandlungen für eine neue Regierung, für den Bund, aber auch für das Land Berlin. Die Sondierungsvereinbarungen liegen auf dem Tisch, erste Eckpunkte sind vereinbart. Die Kritik von unterschiedlichen Seiten in Bezug auf das Themenfeld Mobilität und Verkehr ist auch schon da: zu wenig, zu unkonkret, zu unambitioniert. Und das ist nachvollziehbar:

  • Auf Bundesebene entsteht der Eindruck, dass Mobilitäts- und Verkehrspolitik sich weitgehend auf die Frage von Antriebstechnologien beschränken soll, lediglich ergänzt um die „Entwicklung intelligenter Systemlösungen für den Individualverkehr und den ÖPNV“ – was immer das heißen mag. Und natürlich ist da noch die frühzeitige Festlegung, dass es kein „generelles Tempolimit“ geben wird (unter der Überschrift „Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft“), basierend auf einer erstaunlich ideologischen und irrationalen Forderung der FDP.
  • Für das Land Berlin enthält die Sondierungsvereinbarung zwar einen eigenen Absatz „Verkehr“, dieser wirkt aber wiederum seltsam blutleer, mit allerlei Allgemeinplätzen, Selbstverständlichkeiten und einem klaren Bekenntnis zum „weiter so“ (konkrete Festlegungen gibt es nur zu zwei Straßenbauprojekten). Aufbruchstimmung sieht anders aus, das Wort Innovation etwa findet sich nirgends.

Nun sollte man von Sondierungsvereinbarungen nicht zu viel erwarten, sie sind politische Absichtserklärungen (von Parteien, die sich nicht unbedingt lieben), die einen ersten Rahmen definieren – richtig spannend wird es erst jetzt in den konkreten Koalitionsvereinbarungen. In deren Vorfeld lohnt deshalb trotzdem ein vergleichender Blick auf die Texte – vor allem auf das, was bislang nicht drinsteht. Dieser Vergleich ist auch deshalb spannend, weil im Land Berlin ja die Mobilitäts- und Verkehrswende bereits in der letzten Legislaturperiode ganz oben auf der Agenda des Senats stand.

Erfahrungen aus Berlin

Meine wichtigste Erkenntnis aus den vergangenen fünf Jahren in Berlin: Es ist nicht gelungen, dem für einen nachhaltigen Wandel notwendigen möglichst breiten Grundkonsens der Stadtgesellschaft wesentlich näher zu kommen (einen vollständigen Konsens kann es sicherlich nicht und muss es auch nicht geben). Darüber können auch einzelne Befragungsergebnisse (im Wesentlichen aus den Innenstadtbezirken) nicht hinwegtäuschen. Man hat im Gegenteil beim Blick auf die Wahlergebnisse eher den Eindruck, als ob sich die Polarisierung zwischen Innen- und Außenstadt noch verstärkt hat: hier die „Bubble“ in der Innenstadt, der bereits ein breiter Strauß an multimodalen Mobilitätsangeboten unabhängig vom eigenen Auto zur Verfügung steht und die jetzt (nachvollziehbarerweise) vor der eigenen Haustür auch einen weniger autogerechten öffentlichen Raum vorfinden möchte – dort die in der Außenstadt lebenden Menschen, die sich in ihren Lebenslagen von der Politik nicht ernstgenommen fühlen und bei vielen Maßnahmen keinen Nutzen für sich selber erkennen. Natürlich ist dieses Bild ein Stück weit überzeichnet, die Wirklichkeit ist komplizierter. Aber in der Tendenz hat sich diese Diskussion auch schon im Wahlkampf widergespiegelt (etwa in einer überzogen wirkenden demonstrativen Autofreundlichkeit der SPD) und muss jetzt in den anstehenden Koalitionsverhandlungen überwunden werden. Eine Ursache: Einen offenen Diskurs mit der Stadtgesellschaft zur Notwendigkeit und vor allem dem Mehrwert einer Mobilitäts- und Verkehrswende hat es in den letzten Jahren nicht wirklich gegeben. Das ist umso bitterer, als 2016/17 nicht nur bereits Konzepte für einen solchen Diskurs auf dem Tisch lagen (die dann leider in der Schublade verschwanden), sondern weil auch hinsichtlich politischer Grundausrichtung, Personalzuwachs und Finanzausstattung so gute Rahmenbedingungen bestanden wie lange nicht mehr. Natürlich funktioniert so ein Wandel nicht von heute auf morgen, eine kaputtgesparte Verwaltung leistungsfähiger zu machen braucht Jahre. Wenn aber parallel bestimmte wichtige Handlungsfelder kaum bespielt (z. B. die Parkraumpolitik), strategische Rahmenplanungen verschleppt (z. B. der Stadtentwicklungsplan Verkehr und Mobilität) und zumindest in der Außenwahrnehmung vor allem Projekte in der Innenstadt (und da wieder mit dem Schwerpunkt Radverkehr) vorangetrieben werden (bei generell unzureichender Priorisierung von Infrastrukturprojekten), ist es nicht wirklich ein Wunder, dass die Bilanz der letzten Legislaturperiode des einen oder anderen guten Projekts eher ernüchternd ausfällt – was im Übrigen vorrangig der steuernden Politik, nicht der Fachverwaltung zuzuschreiben ist.

Auf der anderen Seite: Berlin hat einen spannenden Lernprozess durchgemacht, nicht zuletzt beim Mobilitätsgesetz, die Startbedingungen sind heute wesentlich besser als vor fünf Jahren. Wenn diese Erkenntnisse jetzt auch wirklich in einen neuen rot-grün-roten Koalitionsvertrag einfließen, ist es vielleicht tatsächlich möglich, durchzustarten und das bis jetzt Geschaffene als Basis zu nutzen – aber dann bitte deutlich inspirierter, als es die Sondierungsvereinbarung bislang vermuten lässt. Dazu können (unabhängig von der Betrachtung einzelner Verkehrsträger) u. a. folgende Punkte gehören (die sich in der vorliegenden Vereinbarung allerdings nur ansatzweise wiederfinden):

  • Überwinden der Polarisierung in der verkehrspolitischen Diskussion (der Kompromiss zur A 100 z. B. kann dafür ein Baustein sein)
  • Stärkere Priorisierung bei den Infrastrukturmaßnahmen (auch angesichts der langen Planungsvorläufe und begrenzten Ressourcen), ausgerichtet am realen Nutzen im Hinblick auf die Mobilitäts- und Verkehrswende (eine neue Straßenbahnstrecke in der Außenstadt ist wichtiger als eine in der Innenstadt)
  • Mut zu weiteren Experimenten zur Umgestaltung des öffentlichen Raums im Sinne einer Flächenumverteilung nicht nur in der Innenstadt (aber ergebnisoffen, mit Einbeziehung der Betroffenen, ohne moralischen Zeigefinger und ideologischen Ballast)
  • Stärkerer Fokus auf regulierende Maßnahmen (konsistente Parkraumpolitik, stärkeres Engagement für stadtverträglichere Höchstgeschwindigkeiten auch auf Hauptstraßen etc.)
  • Lösung struktureller Probleme (insbesondere im Zuständigkeitsgeflecht zwischen Senatsverwaltung und Bezirken)
  • Weitere Verbesserung bei der Kooperation mit dem Umland (dass in der Sondierungsvereinbarung nur von der Mobilität der Berlinerinnen und Berliner die Rede ist, hilft da nicht unbedingt)
  • Wertschätzender, offener, positiv besetzter Diskurs zur Mobilitäts- und Verkehrswende, der mehr ist als die bloße Kommunikation einzelner Maßnahmen und nicht den Eindruck erweckt, dass lediglich dem Druck einzelner Verbände gefolgt wird (so richtig deren grundsätzliche Ziele auch sein mögen)

Schlussfolgerungen für die Bundesebene

Was lässt sich aus den Berliner Erfahrungen für den Bund lernen? Eine ganze Menge – von den inhaltlichen Themen, um die es geht, bis zu den notwendigen Prozessen. Dass die Sondierungsvereinbarung der „Ampel“ bislang kaum eine inhaltliche Konkretisierung beim Thema Mobilität und Verkehr enthält, lässt auch Raum für Neues, das aus dem Dialog entstehen kann. Und da vermittelt diese Konstellation momentan tatsächlich mehr Innovationsbereitschaft und Aufbruchsgeist, als es in Berlin zu beobachten ist. Wichtig wäre, dass eine Koalitionsvereinbarung vor allem die beiden folgenden Aspekte einbezieht:

  • Auch auf Bundesebene ist nachhaltige Mobilitätspolitik mehr als Technologiefokus und Bau von Infrastruktur. Sie hat ebenso viel mit Regulierung, Kommunikation und Mobilitätsmanagement zu tun. Der Bund setzt hier in vielerlei Hinsicht auch den Rahmen für die Kommunen (als den Orten, wo die Mobilitäts- und Verkehrswende sichtbar wird) und kann als Vorbild agieren. Dabei geht es nicht um Symbolpolitik, sondern um konkrete Hilfestellung, etwa durch einen Rechtsrahmen, der den Kommunen die notwendigen Freiräume einräumt, um vor Ort angemessene Lösungen umzusetzen (z. B. bei stadtverträglichen innerörtlichen Höchstgeschwindigkeiten, wie von der neuen „Städteinitiative Tempo 30“ gefordert).
  • Nachhaltige Mobilität benötigt konsistente Politik über die verschiedenen föderalen Ebenen hinweg, aber auch innerhalb der Bundesregierung: Es braucht einen übergreifenden, bindenden Rahmen, der auf der Basis klarer Ziele notwendige Priorisierungen festschreibt und die unterschiedlichen Ressorts zu einem einheitlichen Agieren verpflichtet. Für all dies könnte ein Bundesmobilitätsgesetz hilfreich sein (dessen Erarbeitung allerdings schon jetzt mögliche und dringliche nicht Maßnahmen blockieren darf). Mehr dazu habe ich u. a. hier aufgeschrieben.
  • Ein Koalitionsvertrag (und das gilt natürlich für den Bund wie für Berlin) ist nur so gut wie seine Umsetzbarkeit. Das betrifft belastbare Aussagen zur Finanzierung und zu Zeitleisten, aber auch den Umgang mit notwendigen Kompromissen: Formelkompromisse, die lediglich dazu dienen, das Gesicht zu wahren, aber letztendlich nichts voranbringen, sind sinnlos – genauso wie das Beharren auf “reiner Lehre”, wenn dies nicht zum Handeln beiträgt. Die Herausforderungen sind (nicht nur, aber vor allem auch beim Klimathema) immens – da braucht es eine gute Mischung aus Ambition, Wirkungsorientierung und Pragmatismus.

Last not least spielt auch auf nationaler Ebene das Diskursthema eine ganz zentrale Rolle (nicht zuletzt bezüglich der Umsetzbarkeit):

„Die Transformation hin zu einem treibhausgasneutralen Deutschland ist ein zentrales gesamtgesellschaftliches Projekt, das bereits begonnen hat und uns die kommenden Jahrzehnte begleiten wird. Sie wird vor allem dann zu Modernisierung, Wohlstand, Innovation, Beschäftigung und somit insgesamt zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen, wenn geeignete Rahmenbedingungen bestehen und sie von möglichst vielen Akteuren mit Mut, Entschlossenheit und Ausdauer, konstruktivem Veränderungswillen und Weitsicht vorangetrieben wird. Diese Transformation kann nur gelingen, wenn sie von so vielen Menschen wie möglich getragen und als individuelles wie kollektives Anliegen begriffen und erprobt wird. Der Klimaschutzplan 2050 weist uns dabei als lernender Prozess den Weg. Vor mittel- und langfristigen Zeithorizonten wie 2030 und 2050 kann die erforderliche Transformation nur als wissensbasierter Lernprozess begriffen werden. Auf diesem Weg sind regelmäßige Diskussionen zwischen Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft darüber notwendig, ob wir die geeigneten Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt und mit der richtigen Geschwindigkeit ergreifen. Dieser regelmäßige Austausch und die entsprechenden Analysen werden den Gesamtprozess stärken. Letztlich geht es darum, unsere gemeinsamen Ziele zu erreichen.“

Dieses Zitat stammt nicht von irgendeiner NGO, einem Thinktank oder den Scientists for Future: Es war im Herbst 2019 sehr lange Bestandteil des Entwurfs für die Einleitung zum neuen Klimaschutzprogramm der Bundesregierung, war dann aber in der finalen Fassung nicht mehr (bzw. z. T. in einzelnen Abschnitten des Programms verstreut) enthalten. Dabei bringen es diese Zeilen auf den Punkt: Klimaschutz (und damit auch eine nachhaltige Mobilitäts- und Verkehrspolitik) ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt – das zu vermitteln und mit entsprechenden Instrumenten zu begleiten, ist aber bislang weitgehend versäumt worden.

Kann eine rot-gelb-grüne Koalition das ändern? Immerhin findet sich in der Sondierungsvereinbarung auf Bundesebene (im Gegensatz zu der für Berlin) ein Passus, der das Thema Diskurs ein wenig adressiert: „Wir wollen eine neue Kultur der Zusammenarbeit etablieren, die auch aus der Kraft der Zivilgesellschaft heraus gespeist wird. (…) Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs, wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben.“ Wenn das die Basis sein könnte, endlich ein solides Dialogfundament für den bevorstehenden umfassenden Transformationsprozess zu schaffen, dann wäre das ein großer Fortschritt – und vielleicht reden wir dann plötzlich auch nochmal ganz anders über das Thema Tempolimit.