Jetzt ist er also da, der Koalitionsvertrag für die neue Bundesregierung, lang erwartet und im Vorfeld mit hohen Erwartungshaltungen be(und vielleicht über-)frachtet, gerade bei den Themen Klima und Mobilität/Verkehr. Und nun?

1. Akt: Das Glas ist fast leer – oder?

Auch ich war zunächst bitter enttäuscht. Die schon vor der Präsentation des Vertrags durchsickernde Nachricht, dass die FDP das Ressort für „Verkehr und Digitales“ leiten soll, war ein Schock. Die FDP, eine Partei, die beim Thema Mobilität im Wesentlichen nur für individuelle Freiheit, Technologiefixiertheit und Digitalisierungsvergötterung steht – wie soll das zusammengehen mit einer nachhaltigen Mobilitäts- und Verkehrswende? Eine Partei, die eine der „low hanging fruits“ klimaorientierter Verkehrspolitik, ein Tempolimit auf Autobahnen, schon frühzeitig verhindert hat, aus ideologischen und nicht aus rationalen Gründen? Und dann die erste rasche Lektüre des Vertrags im Scrollmodus: ganze 4 Zeilen zum Radverkehr, ein einziger Satz zum Fußverkehr, Konkretes vor allem beim Thema Antriebe, ansonsten viel Vages, Unverbindliches…

Mit ein bisschen Abstand und einem etwas nüchterneren Blick auf den politischen Gesamtkontext hat sich diese Einschätzung in Teilen geändert. Was haben wir eigentlich erwartet? Da treffen drei Parteien mit komplett unterschiedlichen (politischen und kulturellen) Hintergründen zusammen und wollen eine Regierung bilden: eine SPD, die sich auf Bundesebene bislang beim Thema der individuellen Mobilität nicht als besonders fortschrittlich sondern eher als Besitzstandswahrerin gezeigt hat, die hochambitionierten und stark auf den Klimaschutz fokussierten Grünen (mit ordentlich Druck aus Teilen der Zivilgesellschaft) und die schon beschriebene FDP – dass da gerade beim Thema Mobilität keine reine grüne Programmatik im Koalitionsvertrag auftauchen würde, ist eigentlich nicht wirklich eine Überraschung, zumal das Austarieren (wer bekommt was…) ja bei so einem Werk auch themenübergreifend erfolgt. Kompromisse sind unvermeidlich – die Frage ist, was sie taugen.

Manche ganz rasche Kritik vor allem in den Twitter-Bubbles grenzt an Albernheit. Wenn ich das Urteil über die Qualität des Koalitionsvertrages daran festmache, dass der Begriff „Auto“ 50 mal auftaucht und Begriff „Fahrrad“ nur 5 mal, dann hat das nichts mit seriöser Auseinandersetzung zu tun (und tut im Übrigen auch denen Unrecht, die in den letzten Wochen alles gegeben haben, um möglichst viele gute Inhalte in den Vertrag hineinzuverhandeln). Dabei darf man auch nicht vergessen: Wir leben in einem föderalen System und es geht hier um den Koalitionsvertrag für die Bundesebene. Dass da die Körnigkeit der Maßnahmen nicht Kiezblocks oder Fahrradständer einbezieht, sollte niemanden verwundern. Es ist ja auch nicht so, dass Länder und Kommunen beim Thema Mobilität komplett ohne eigene Zuständigkeiten und Kompetenzen wären (dazu später noch mehr). Der Tunnelblick auf das spezifische eigene Lieblingsthema behindert den realen Fortschritt eher als ihn zu befördern.

2. Akt: Vielleicht ist das Glas ja doch nur halb leer…

Wie sieht die inhaltliche Bewertung des Koalitionsvertrags auf den zweiten Blick aus? Zunächst einmal bleibt es dabei: es fehlt vieles, es ist kein Vertrag, durch den der Weg zur Mobilitäts- und Verkehrswende weit offensteht. Vor allem der stark technologiegeprägte Fokus beim Umgang mit dem privaten Autoverkehr verdeutlicht die reale Gefahr, dass die Mobilitäts- und Verkehrswende weitgehend auf eine Antriebswende reduziert wird. Natürlich ist auch diese essenziell, wir brauchen eine deutliche Beschleunigung bei der Elektromobilität – aber die Verkehrswende ist so viel mehr (auch mehr als Klimaschutz, eine solche einseitige Argumentation ist nicht immer hilfreich): Es geht um lebenswerte Städte und Gemeinden mit den vielfältigen Handlungsfeldern, die dafür bespielt werden müssen. Dazu sagt der Vertrag zu wenig aus. Der Vorschlag eines Bundesmobilitätsgesetzes, mit dem auch strukturell die Mobilitäts- und Verkehrswende vom Kopf auf die Füße hätte gestellt werden können, findet sich allenfalls in kleinen Häppchen bei einzelnen Maßnahmen wieder. Wichtige fiskalische Anreize, die individuelle Autonutzung zu reduzieren, fehlen fast vollständig (z. B. Abbau von Pendlerpauschale und Dieselprivileg). Und diese Liste ist garantiert noch nicht komplett…

Auf der anderen Seite fördert der zweite Blick dann doch das eine oder andere im Koalitionsvertrag zu Tage, was eigentlich gar nicht so schlecht ist, teilweise sogar ausgesprochen ambitioniert. Ein paar Beispiele:

  • Es gibt ein durchaus klares Bekenntnis zum Vorrang der Schiene im Bundesverkehrswegebau, teilweise auch durch Maßnahmen unterlegt. Die angestrebte Verdoppelung der Verkehrsleistung im Personenverkehr ist ausgesprochen ehrgeizig. Und die in Aussicht gestellte Gemeinwohlorientierung der Infrastruktursparten des DB-Konzerns ist ein wichtiger Schritt.
  • Für den ÖPNV wird der Pandemie-Rettungsschirm auch in 2022 fortgeführt (was allerdings eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist). Die Regionalisierungsmittel werden erhöht, intermodale Verknüpfungen verbessert. Digitale Mobilitätsdienste, innovative Mobilitätslösungen und Carsharing werden als Bestandteil „öffentlicher Verkehre“ definiert.
  • Wie schon erwähnt enthält der Koalitionsvertrag für die Verkehrswende auf kommunaler Ebene eher wenig. Auf der anderen Seite ist beim Radverkehr die Verstetigung dessen, was in der vergangenen Legislaturperiode auf den Weg gebracht worden ist, gar nicht so wenig – vor allem wenn man den sehr zögerlichen Mittelabfluss betrachtet (fast am wichtigsten ist in diesem Zusammenhang die an anderer Stelle des Vertrags in Aussicht gestellte deutliche Vereinfachung und Entbürokratisierung der Förderprogramme – das wäre ein Segen für die Kommunen). Und dass der Bund vor dem Hintergrund der erwähnten föderalen Zuständigkeiten bereit ist, eine Nationale Fußverkehrsstrategie aufzustellen, ist keine Selbstverständlichkeit.
  • Und dann gibt es da diesen Passus zum Thema Verkehrsrecht: „Wir werden Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung so anpassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen.“ Da steckt viel drin – das kann ein entscheidender Hebel sein, um in den Kommunen wichtige Dinge möglich zu machen, die bislang am übergeordneten Rechtsrahmen scheitern, insbesondere auch die Möglichkeit, endlich flexibel vor Ort angemessene stadtverträgliche Höchstgeschwindigkeiten anordnen zu können, auch auf Hauptstraßen, auf dem Weg zu Tempo 30 als Regelhöchstgeschwindigkeit innerorts.
  • Es lohnt übrigens, auch in das eine oder andere Kapitel des Koalitionsvertrags hineinzuschauen. So findet sich unter der Überschrift „Gute Lebensverhältnisse in Stadt und Land“ a. dieser erstaunliche Satz: „Die Erschließungs- und Qualitätsstandards für ein alltagstaugliches Mobilitätsangebot als möglichst vollwertige Alternative zum motorisierten Individualverkehr wollen wir im Jahr 2022 zwischen Bund, Ländern und Kommunen definieren.“ Und gleich danach: „Die Bahn muss in ganz Deutschland zum Rückgrat der Mobilität werden – auch im ländlichen Raum.“ Das sind doch mal ganz wunderbare ambitionierte Sätze, an denen man diese Bundesregierung messen kann.
  • Und dann doch nochmal zur Digitalisierung: Sie wird die Welt nicht retten und auch nicht die Mobilitäts- und Verkehrswende. Aber wenn wir, wie im Koalitionsvertrag postuliert, bis zum Ende der Legislaturperiode die digitale Parkraumüberwachung und die „Digitale Automatische Kupplung“ im Schienengüterverkehr eingeführten haben sollten, dann fände ich das gar nicht schlecht.

3. Akt: Oder ist das Glas vielleicht sogar halb voll?

Haben wir jetzt plötzlich Grund zur Euphorie? Auf keinen Fall. Dazu werden zu wenige strukturelle Grundprobleme angepackt, sei es beim Rechtsrahmen, bei der Finanzierung oder bei der Organisation von Prozessen, von Ministerien und nachgeordneten Behörden – ein Bundesmobilitätsgesetz hätte hier Abhilfe schaffen können. Und es bleibt dabei, dass von einem FDP- (und vorher CSU-)geführten Ministerium nicht von vornherein zu erwarten ist, dass es die für eine echte Mobilitäts- und Verkehrswende wichtigen Themen an die Spitze der Agenda stellt. Auf der anderen Seite bewegt sich das Verkehrsministerium nicht im luftleeren Raum. Es ist Teil einer Koalition. Es muss kooperieren mit einem Wirtschafts- und Klimaministerium (Grüne), einem Umweltministerium (Grüne) und einem neuen Bauministerium (SPD), in denen Mobilitäts- und Verkehrsthemen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen werden. Die FDP wird sich rasch als lernfähig erweisen müssen, auch bei ihrem Freiheitsbegriff: Bei Mobilität und Verkehr geht es nicht vorrangig um individuelle Selbstverwirklichung, sondern um Gemeinwohl, Daseinsvorsorge, Teilhabe und Gesundheit, um das Funktionieren unserer Gesellschaft – auch das gehört zu Freiheit.

Nun werden die erwähnten positiven Aspekte nicht von selber Wirklichkeit – dazu braucht es weiter Druck von außen (auch aus der Zivilgesellschaft) und weiterhin einen langen Atem. Vieles, dass jetzt eher vage als Absichtserklärung formuliert ist, muss schnell konkrete Politik werden. Das betrifft vor allem die Rahmenbedingungen für die Mobilitäts- und Verkehrswende in den Kommunen. Allerdings: Es hilft überhaupt nichts, nur auf den Bund zu schauen. Die Kommunen können schon jetzt eine ganze Menge bewegen – wenn sie denn wollen. Und wenn wir ehrlich sind – in vielen Städten und Gemeinden ist in dieser Hinsicht noch ganz viel Luft nach oben. Das gilt allerdings auch für die Länder: Z. B. haben nur ganz wenige bislang die seit geraumer Zeit bestehende Möglichkeit genutzt, durch entsprechende landesgesetzliche Regelungen den Kommunen die notwendigen Spielräume bei der Bemessung der Bewohnerparkgebühren einzuräumen.

Mein abschließendes Fazit: Es kommt drauf an, was man draus macht… Natürlich hatte ich mir vom Koalitionsvertrag deutlich mehr erhofft. Viele Schwerpunkte sind falsch gesetzt. Grundlegende strukturelle Missstände werden gar nicht oder zu unentschlossen angegangen. Aber auf der anderen Seite: Wenn das, was sich die Koalition hier vorgenommen hat, bis 2025 nur annähernd umgesetzt bzw. auf den Weg gebracht ist, dann wäre das im Vergleich zu den vergangenen Legislaturperioden eine ganze Menge. Das ist nicht genug? Stimmt. Aber was ist die Alternative? Besserwisserisch jedes Wort im Koalitionsvertrag zu sezieren, auf die Verträglichkeit mit der reinen Lehre abzuklopfen und die Legislaturperiode schon jetzt für verloren zu erklären, ist zwar bequem, aber nicht mein Ding – es hilft niemandem und bringt keine Veränderung. Ich kann mich da nur wiederholen: Die Mobilitäts- und Verkehrswende kann nicht einfach verkündet werden – sie ist ein Prozess, und zwar ein gesamtgesellschaftlicher. Und vielleicht entsteht ja eine neue Dynamik, schaffen wir sogar noch mehr, können Dinge in politisches Handeln umwandeln, die noch gar nicht im Koalitionsvertrag stehen? Das liegt auch an uns… Noch ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag: „In diesem Sinne spiegelt eine Koalition aus unseren drei so unterschiedlichen Parteien auch einen Teil der komplexen gesellschaftlichen Wirklichkeit wider. Wenn wir es schaffen, gemeinsam die Dinge voranzutreiben, kann das ein ermutigendes Signal in die Gesellschaft hinein sein: dass Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können. Wir wollen eine Kultur des Respekts befördern – Respekt für andere Meinungen, für Gegenargumente und Streit, für andere Lebenswelten und Einstellungen.“

Ich finde das richtig. Das klingt nach „Prinzip Hoffnung“? Es gibt schlechtere Prinzipien.