Eigentlich wollte ich Anfang April wieder dorthin, in die westukrainische Stadt Lviv (Lemberg), es wäre das zehnte Mal innerhalb der letzten dreieinhalb Jahre gewesen. Im Rahmen eines Projekts der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit GIZ unterstütze ich seit 2018 die Stadt auf dem mühsamen Weg, eine auf Nachhaltigkeit und urbane Lebensqualität ausgerichtete Mobilitäts- und Verkehrspolitik auf den Weg zu bringen.

Und jetzt? Die Ukraine ist das Opfer eines brutalen Angriffskriegs, wir werden täglich, stündlich mit schrecklichen Bildern konfrontiert. Wir sehen das Leid, Menschen auf der Flucht, Ruinen, Bunker. Wir sehen nicht mehr die eigentliche Schönheit der Städte, wir denken nicht mehr daran, dass dieses Land so Vieles zu bieten hat, gerade auch für uns und für Europa.

Gerade deshalb ist es mir jetzt wichtig, meine Eindrücke von Lviv aus einer gleichsam „anderen Zeit“ zu schildern, der Welt vor diesem Krieg, um uns in Erinnerung zu rufen: Es geht um eine gute Zukunft für dieses Land, das mitten in Europa liegt und unter immer noch schwierigsten Rahmenbedingungen seinen Weg sucht. Die Ukraine ist keine lupenreine Demokratie. Es ist ein armes Land, es leidet unter Korruption und einem unzureichenden Justizsystem. Es kämpft auf diesem Weg in die Zukunft gegen vielfältige innere und äußere Widerstände – aber mit einer großartigen Unbeirrbarkeit und einem Unabhängigkeits- und Freiheitsdrang, den man nur bewundern kann. Das gilt genauso und erst recht für Lviv.

Annäherung an Lviv

Bevor ich im Herbst 2018 das erste Mal nach Lviv kam, hatte ich versucht mich vorzubereiten, vor allem auch hinsichtlich der ganz besonderen Geschichte dieser Stadt. Geholfen haben mir da vor allem zwei Bücher: Da ist zum einen „Lemberg – die vergessene Geschichte Europas“ des Journalisten Lutz C. Klevemann, der sein eigenes Kennenlernen der Stadt über die Biographien der Menschen, denen er begegnet, zu einem behutsamen Stadtporträt entwickelt, in das die wechselvolle Geschichte der Stadt eingeflochten ist. Und dann das großartige „Rückkehr nach Lemberg“ von Philippe Sands (im Original „East West Street“), das nicht direkt ein Buch über Lviv ist, sondern eine unglaublich bewegende Verknüpfung der Entstehungsgeschichte der Menschenrechtsgesetzgebung mit der Familiengeschichte des Autors, die immer wieder nach Lviv führt und sich mit den düstersten Kapiteln der Stadtgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt.

Das Projekt, das mich nach Lviv brachte, hatte zum Ziel, im Rahmen der von der GIZ unterstützten Erarbeitung eines Integrierten Stadtentwicklungskonzepts (ISEK) der Stadt auch bei der Erarbeitung eines Sustainable Urban Mobility Plans (SUMP) nach EU-Vorbild zur Seite zu stehen. Ich war Teil eines Teams von vier „international experts“, unter der Federführung des Zürcher Planungsbüros Basler & Hofmann (mit Ulrike Huwer und Manuel Oertle), außerdem war Urs Thomann dabei (Van de Wetering Atelier für Städtebau GmbH).

Stadtentwicklung und Mobilität in Lviv

Die Stadt (mit ca. 750.000 Bewohner*innen die siebtgrößte der Ukraine) hat mich vom ersten Blick an fasziniert, vor allem auch in ihren Widersprüchen. Das Projekt gab uns die Möglichkeit, unterschiedlichste Facetten von Lviv kennenzulernen. Es gibt ja nicht nur die historische, im 2. Weltkrieg kaum zerstörte Altstadt mit Kaffeehäusern und Straßenmusik an jeder Ecke oder die prächtigen Innenstadtrandquartiere mit den vielen Reminiszenzen an die Zeit der Herrschaft der Habsburger. Es gibt auch den typischen postsowjetischen Industrie- und Gewerbegürtel um die Kernstadt herum (an vielen Stellen noch halb verfallen, aber andernorts der Schauplatz dynamischer baulicher Entwicklungen). Und es gibt natürlich die großen, meist monofunktional auf das Wohnen ausgerichteten Siedlungsgebiete am Stadtrand mit ihren eigenen Problemen. Die Narben der Stadtgeschichte sind dabei nicht immer auf den ersten Blick sichtbar, gerade die aus dem 2. Weltkrieg. Armut kommt an vielen Stellen zum Ausdruck, etwa auf den informellen kleinen Straßenmärkten gleich außerhalb der Fußgängerzone. Gleichzeitig wirkt die Stadt vor allem in der Innenstadt unglaublich jung und lebendig.

Das Projekt, das mit insgesamt acht Besuchen in Lviv innerhalb eines Jahres verbunden war, hat uns auch Einblicke in die Stadtgesellschaft gegeben, in die Kommunalpolitik und die Mühen, Wandel und Innovation bei Städtebau und Mobilität auf den Weg zu bringen. Uns bot sich das Bild einer Stadt mit großen Potenzialen und aktuellen tiefgreifenden Umstrukturierungsprozessen, bei denen die Stadtverwaltung nur einer von vielen Akteuren war und ist. Investoren und Entwickler scherten (und scheren) sich nicht unbedingt um übergeordnete stadtpolitische Ziele und Vorgaben. Das Ringen um das ISEK als neuen Masterplan für die Stadtentwicklung um Lviv war auch eines um Macht.

Die Entwicklung von Mobilität und Verkehr ist ebenfalls ein Teil eines tiefgreifenden Umbruchs. Trotz einer noch vergleichsweise niedrigen Motorisierung und einer sehr hohen ÖPNV-Nutzung waren und sind erhebliche durch den Kfz-Verkehr verursachte verkehrliche Probleme offenkundig, insbesondere im Umfeld der Innenstadt. Gepaart mit schwierigen strukturellen Rahmenbedingungen (schwankendes politisches Commitment, unklare Verantwortlichkeiten, zersplitterte Zuständigkeiten vor allem beim ÖPNV etc.) und den sehr eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten der Stadt war schnell klar, dass ein SUMP „nach Lehrbuch“ für Lviv kaum hilfreich wäre und dass es viel mehr darum gehen musste, ein den wesentlichsten Herausforderungen entsprechendes, von der Zielausrichtung her klares und pointiertes, aber gleichwohl robustes und an den lokalen Gegebenheiten ausgerichtetes Produkt zu entwickeln („Toolbox“), das tatsächlich eine reale Umsetzungsperspektive eröffnen kann. Zu diesen Herausforderungen gehörte auch, dass man Menschen mit der Hoffnung auf mehr Wohlstand kaum vermitteln kann, dass sie sich doch bitte kein Auto zulegen mögen, weil das schlecht fürs Klima oder die urbane Lebensqualität sei. Es muss vor allem darum gehen, das absehbare weitere Wachstum des Autoverkehrs durch einen geeigneten und auf die spezifischen Möglichkeiten der Stadt zugeschnittenen Maßnahmenmix soweit wie möglich zu begrenzen, vor allem durch eine rasche Modernisierung des ÖPNV, dessen Konkurrenzfähigkeit im Vergleich zum Auto auf der Kippe steht.

Ein SUMP für Lviv

Die Erarbeitung des SUMP erfolgte durch ein hochengagiertes und gut vernetztes Team meist junger Menschen aus unterschiedlichen Institutionen (Stadtverwaltung, Verkehrsunternehmen, separaten stadteigenen Gesellschaften) mit einem breiten Spektrum an fachlichen Kompetenzen und einem sehr aktuellen Wissensstand zu den einzelnen Themen, allerdings teilweise gepaart mit einer sehr starken Spezialisierung der einzelnen Akteure und noch vergleichsweise gering ausgeprägtem Verständnis für themenübergreifendes und integriertes Planen. Von großer Bedeutung war die stetige Rückkopplung mit dem Bearbeitungsprozess für das ISEK, das Büro des Stadtarchitekten war ebenfalls im SUMP-Team vertreten. Unsere Rolle lag zum einen in der Unterstützung des SUMP-Teams, insbesondere bezüglich Strukturierung des Prozesses und Gewährleistung einer Umsetzbarkeitsorientierung des Planwerks. Zum anderen trugen wir zur Vermittlung der Inhalte und des Prozesses in die Politik und in die Stadtgesellschaft bei, etwa durch Inputs bei Ausschusssitzungen oder durch Präsentationen bei öffentlichen Diskussionsveranstaltungen.

Mit der Zeit entstand zwischen den Prozessbeteiligten ein belastbares gegenseitiges Vertrauensverhältnis, wir haben uns alle als ein gemeinsames Team begriffen. Eine besondere Bedeutung hatte hierfür die großartige organisatorische und auch inhaltliche Unterstützung des GIZ-Teams vor Ort, die einen entscheidenden Einfluss auf das Gelingen des Projekts hatte. Für die gemeinsame Arbeit entwickelte sich eine produktive Mischung unterschiedlicher Formate, von gemeinsamen Workshops über inhaltliche Inputs von unserer Seite bis zu Ortsbegehungen und öffentlichen Veranstaltungen. Diese öffentlichen Veranstaltungen waren in der Regel gut besucht und zeugten von einem großen Interesse insbesondere seitens der Nichtregierungsorganisationen (NGO) und eines erfreulich jungen Publikums. Der SUMP-Prozess wurde auch in den sozialen Medien intensiv begleitet. Deutlich wurde aber auch, dass sich nicht alle Teile der Stadtgesellschaft an dieser Diskussion beteiligten.

Dass es tatsächlich gelang, innerhalb eines Jahres einen fertigen Entwurf des SUMP für Lviv zu erarbeiten, finde ich auch im Nachhinein immer noch bemerkenswert. Es war gelungen, einen vergleichsweise eigenständigen, pragmatischen, gleichwohl hinsichtlich der Zielsetzung anspruchsvollen und auf die Situation in Lviv angepassten SUMP zu entwickeln, der – nicht zuletzt auch im Zusammenspiel mit dem ISEK –  in dieser Form für die Ukraine neue Maßstäbe setzte und in dieser Hinsicht auch hohe Aufmerksamkeit erhalten hat (u. a. Auszeichnung zum besten Mobilitätskonzept des Jahres in der Ukraine im Rahmen der Fachtagung “Smart Cities Forum Kyiv” im Herbst 2019). Die Grundstruktur des SUMP leitet von einem (aus einer Analyse der aktuellen Situation, der absehbaren Trends und der Rahmenbedingen abgeleiteten) Leitbild mit differenziertem Zielekatalog zu einem Maßnahmenkatalog, der in unterschiedliche Kategorien untergliedert ist und auch Faktoren wie Finanzierbarkeit und zeitliche Prioritäten bzw. Abhängigkeiten einbezieht. Wichtig waren insbesondere die Abkehr von einer rein auf den Neubau aufwändiger Infrastruktur ausgerichteten Strategie und die deutlich verbesserte integrative Betrachtung von Stadtentwicklung und Mobilität/Verkehr. Und zu Beginn des Jahres 2020 wurde der SUMP tatsächlich vom Stadtparlament beschlossen (wie später auch das ISEK). Auf der Webseite der “Transformative Urban Mobility Initiative” TUMI finden sich hier englischsprachige Informationen zum SUMP für Lviv (auch ein – allerdings möglicherweise nicht sicherer – Downloadlink). Nähere Informationen sonst auch gern bei mir.

Als ich (pandemiebedingt) im September 2021 das erste Mal nach zwei Jahren wieder nach Lviv kam, war ich gespannt, was von der grundsätzlichen strategischen Ausrichtung des SUMP im Alltag der Kommunalpolitik übriggeblieben sein würde. Ich hatte mit Freude verfolgt, dass wichtige Akteure, die während des SUMP-Prozesses eine positive Rolle spielten, mehr Verantwortung in der Stadtverwaltung bekommen hatten. Aber wie würde es mit der Umsetzung aussehen? Ich war überrascht. Trotz nach wie vor schwieriger Rahmenbedingungen werden wichtige Projekte mit großer Beharrlichkeit vorangetrieben, auch mit mehr Rückendeckung aus der Politik, als ich erwartet hatte. Das reicht von der Einführung eines elektronischen ÖPNV-Tickets (als wesentlicher Voraussetzung für die Integration der zersplitterten ÖPNV-Landschaft) über die Realisierung erster Radrouten bis zum Umbau einer großen Hauptverkehrsstraße im Sinne einer städtebaulichen Integration mit Fahrbahnrückbau und neuen Radverkehrsanlagen. Auch „dicke Bretter“ wie eine verstärkte Regulierung des Parkens im Straßenraum werden nach und nach angegangen. Vieles ist noch ein Tropfen auf den heißen Stein – aber es geht voran.

Hoffnung

Es ist schwer in Worte zu fassen, warum ich diese Stadt so liebgewonnen habe, auch mit ihren ganzen Problemen und Unzulänglichkeiten (wo gäbe es die nicht…). Aber das Entscheidende sind ganz sicher die Menschen, die ich kennenlernen durfte und für deren Hartnäckigkeit und unfassbar großes Engagement für die Verbesserung der Lebensverhältnisse in Lviv das Wort bewundernswert unzureichend ist: Marta, Oksana, Ulyana, Orest, Andriy, Anton, Pavlo, Sascha, Demyan, Ihor und viele mehr – bis zur lebensklugen Übersetzerin und Stadtführerin Olha, die sich nebenbei noch um zahllose Katzen in der Innenstadt kümmert. Und all dieses Engagement steht jetzt auf dem Spiel, all diese Menschen sind in Gefahr.

Ich habe zu Beginn Philippe Sands Buch „Rückkehr nach Lemberg“ erwähnt. Es gibt eine beeindruckende Lesung von Teilen des Buches durch den Autor und die Schauspielerinnen Katja Riemann und Jasmin Tabatabai mit passender musikalischer Begleitung, der Link dazu findet sich hier. Wenn ganz am Schluss der Bassbariton Laurent Naouri Leonard Cohens „Anthem“ singt mit dem Refrain „There is a crack, a crack in everything, that’s how the light gets in“ – dann ist das so etwas wie das ganz kleine Licht am Ende des Tunnels, der Funken Hoffnung. Und letztendlich geht es gerade jetzt um Hoffnung, für die Menschen in Lviv und in der Ukraine, für Europa. Hoffnung, die wir alle nicht verlieren dürfen.