Es ist Sommer. Und was für ein Sommer… Es ist heiß, zu heiß. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine tobt ungebrochen. Seine Auswirkungen auch auf unser Leben und die deutsche Innenpolitik werden immer dramatischer. Dabei stellt sich für mich nicht die Frage, ob wir die Unterstützung der Ukraine verringern oder die Sanktionen gegen Russland in Frage stellen sollten. Nein, eher im Gegenteil. Was mich nach wie vor erschüttert, ist die weitgehende Stagnation der Verkehrswendepolitik auf Bundesebene (von wenigen Ausnahmen abgesehen), gerade im Kontext zur Doppelthematik Ukrainekrieg/Klimawandel – es gäbe so viel zu tun und so viele Ansatzpunkte, jetzt mit vergleichsweise einfachen Maßnahmen unsere Resilienz gegen die energiepolitischen Auswirkungen der Krise und die Auswirkungen des Klimawandels zu stärken. Warum scheint all das zu versickern (die jüngst vorgestellten dürren und völlig unzureichenden Vorschläge aus dem Bundesverkehrsministerium zum “Klimaschutzsofortprogramm” sind da nur ein Beispiel), anstatt in konkretes politisches Handeln umgemünzt zu werden?
Der Bundesverkehrsminister, sein Ministerium und die FDP
Vor etwa 10 Tagen ist in der ZEIT ein großartiger Artikel von Paul Middelhoff über Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing erschienen. Er verzichtet auf eine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern versucht, sich dem Menschen Volker Wissing zu nähern. Es tut fast weh, zu lesen, wie der Mensch Volker Wissing zwischen dem eigenen Anspruch, die Schöpfung zu retten und den (partei-)politischen Zwängen sowie einem zwischen Trägheit, Status-quo-Denken und Innovationswillen schwankenden Ministerium zerrieben zu werden droht.
Ich glaube nach wie vor, dass Volker Wissing von seinen eigenen Zielen und Ansichten her durchaus der richtige Minister sein könnte, um in dieser schwierigen Koalition den notwendigen Wandel in der Mobilitäts- und Verkehrspolitik voranzutreiben, Schritt für Schritt. Zu erwarten, dass von heute auf morgen das Ministerium eine 180-Grad-Wende vollziehen würde, war ohnehin eine Illusion. Notwendig ist ein schwieriger und auch schmerzhafter Transformationsprozess innerhalb des Hauses, der seine Zeit braucht (ob man das wahrhaben will oder nicht). Und der Fachebene im Ministerium zu unterstellen, dass man sich dort jeglicher Veränderung der Politik verweigert, täte den dort Tätigen unrecht. Ich kenne selber viele Mitarbeiter*innen, die gerne die Verkehrswende vorantreiben wollen. Aber warum wird davon nach außen so wenig sichtbar? Ich fand es eigentlich eine gute Geste von Herrn Wissing, dass er die Führungsebene des Ministeriums (Abteilungs- und Unterabteilungsleitungen) bei seinem Amtsantritt nicht verändert hat – als Vertrauensvorschuss und als Angebot, den Wandel auf Augenhöhe gemeinsam anzugehen. Doch so langsam kommen mir Zweifel. Der Eindruck verstärkt sich, dass dieses Angebot zumindest von Teilen der Führungsebene nicht angenommen worden ist, sondern eher als Gelegenheit begriffen wurde, möglichst viel beim Alten zu belassen und notwendige Veränderungen zu blockieren oder zumindest zu verzögern (zu zwei Beispielen in diesem Zusammenhang komme ich weiter unten noch zurück).
Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist vermutlich die schwerwiegendere – und das ist das Agieren der FDP als Partei auf Bundesebene. Es ist bitter, aber wir müssen zunächst akzeptieren, dass die Weltlage für die Umsetzung der Verkehrswende kontraproduktiv ist – nicht inhaltlich (da gibt es im Gegenteil Gründe genug, viel schneller zu handeln), aber politisch. In der aktuellen Situation werden die Parteien der Regierungskoalition (fast) alles tun, um eine Regierungskrise zu vermeiden – und das ist absolut verständlich. Das Problem ist, dass der kleinste Regierungspartner, die FDP, das ausnutzt. Sie fühlt sich ohnehin durch das momentane Hoch der Grünen mehr und mehr bedroht und weiß gleichzeitig genau, dass weder Grüne noch SPD die Bunderegierung an einer Tempolimitdiskussion scheitern lassen würden. Und so macht die FDP bei diesem Thema wie bei anderen schlichtweg Parteipolitik, anstatt verantwortungsvolle Regierungspolitik. Sie glaubt, sich bei ihrer vermeintlichen Stammklientel profilieren zu müssen, und ignoriert dafür notfalls auch den Koalitionsvertrag. Die treibenden Kräfte für dieses Agieren scheinen vor allem der Parteivorsitzende Christian Lindner und auch Teile der Fraktion zu sein. Das ist angesichts der momentanen dringenden Herausforderungen eigentlich unverantwortlich (und auf lange Sicht vermutlich auch ein Eigentor der FDP). Und der Bundesverkehrsminister? Kann oder will er nicht dagegenhalten? Die eine oder andere Äußerung von ihm legt nahe, dass er zumindest bei manchen Themen gerne mehr machen würde. Aber zu sehen ist davon bislang fast nichts. Und das ist traurig.
Tempo 30 und Tempo 130: zwei Rätsel
Besonders irrational erscheint diese Blockadepolitik von maßgeblichen Teilen der FDP beim Thema der zulässigen Höchstgeschwindigkeiten im Straßenverkehr. Durch den Krieg und die Energiekrise hat die FDP eine ideale Gelegenheit auf dem Silbertablett serviert bekommen, beim Tempolimit auf Autobahnen aus der selbst gestellten Falle herauszukommen und zu einer fachlich begründeten Meinungsbildung zurückzukehren, anstatt auf einem in diesem Fall besonders verstaubten und widersprüchlichen Freiheitsbegriff zu beharren. Sie hätte ohne Gesichtsverlust als Verkehrsversuch ein temporäres generelles Tempolimit auf allen Bundesautobahnen einführen können, begleitet durch eine vernünftige Evaluierung. Sie hätte dafür politische und sogar auch gesellschaftliche Mehrheiten. Bei einem Misslingen könnte sie sagen, „wir haben’s ja immer gewusst“ – und bei einem positiven Ergebnis für sich in Anspruch nehmen, über den eigenen Schatten gesprungen zu sein und den Weg für den Wandel bereitet zu haben. Aber stattdessen wird der Minister mit Gegenargumenten in die Arena geschickt („Schildermangel“), die ihn eher lächerlich machen. Wer hat das eigentlich zu verantworten?
Und dann gibt es ja noch die Diskussion um die angemessenen Höchstgeschwindigkeiten innerorts. Die vor einem Jahr gegründete (und von mir fachlich wie organisatorisch unterstützte) Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ erfreut sich stetig wachsender Unterstützung (die Zahl der Beitrittskommunen steuert auf 250 zu, ca. 20 Mio. Menschen werden durch die Städte und Gemeinden vertreten) und einer hohen medialer Aufmerksamkeit (stellvertretend sei hier dieser Podcast empfohlen). Vor über drei Monaten hat die Initiative das erste Mal den Bundesverkehrsminister angeschrieben, Mitte Mai ein zweites Mal. Die Reaktion: null. Kein Antwortschreiben, keine Einladung zu einem Gespräch, nicht einmal eine Eingangsbestätigung. Auch das ist mir ein Rätsel. Die Initiative will ja tatsächlich mehr Freiheit für die Kommunen – die Freiheit, angepasst an die örtliche Situation die jeweils angemessene Höchstgeschwindigkeit anordnen zu können. Sie fordert keineswegs Tempo 30 überall, sie will schlicht und einfach nur, dass die Kommunen vor Ort sachgerecht entscheiden können. Man sollte meinen, dass das ein urliberales Anliegen ist (übrigens hat in einer ganzen Reihe von Kommunen die örtliche FDP für den Beitritt der jeweiligen Stadt oder Gemeinde gestimmt, teilweise einen solchen Beschluss sogar initiiert)… Sind es hier die Beharrungskräfte der zuständigen Abteilung im Ministerium, die den Minister ausbremsen? Oder sieht er die Forderung der Initiative tatsächlich selber als unzulässigen, freiheitseinschränkenden Eingriff? Fragen, auf die ich gerne eine Antwort hätte…
Hoffnung gibt es immer
Es mag verwunderlich erscheinen, wenn ich angesichts dieser Entwicklungen meinen Optimismus nicht verliere. Das liegt vor allem daran, dass ich bei der erwähnten Städteinitiative begeistert bin, welche Dynamik sie entwickelt hat und mit welcher Ernsthaftigkeit große Städte und kleine Gemeinden dieses Thema diskutieren und über Stadt- bzw. Gemeinderatsentscheidungen ihren Willen zum Wandel kundtun, als Teil einer immer breiter werdenden kommunalen Basisbewegung. Die Bundespolitik wird das über kurz oder lang nicht mehr ignorieren können. Da bricht sich etwas Bahn… Und damit bin ich schon wieder bei meinem Lieblingszitat des Jahres von Leonard Cohen: „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.“