Jetzt ist es also (erstmal) Geschichte, das 9-Euro-Ticket – und dennoch mehr im Gespräch denn je. Kann man dazu noch etwas schreiben, was nicht andere schon gesagt haben? Macht es Sinn, sich in eine Diskussion einzumischen, die teilweise schon so polarisiert ist, dass Pro- und Kontra-Stimmen gleich gesetzt werden mit Befürworten und Ablehnen der Verkehrs- und Mobilitätswende? Ich will es trotzdem mal versuchen.

Vor knapp drei Monaten, Anfang April, schrieb ich in einem Blogbeitrag eine ziemlich spontane Einschätzung zum ersten Entlastungspaket der Bundesregierung im Zusammenhang mit den Auswirkungen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine nieder: „Anstatt zielgenau die Menschen zu unterstützen, die tatsächlich durch höhere Mobilitätskosten in echte Nöte geraten, wird mit der Gießkanne gearbeitet. Die pauschale Reduzierung der Treibstoffpreise belohnt letztendlich vor allem diejenigen, die mit verbrauchsintensiven großen Fahrzeugen viel fahren, anstatt Anreize zum Energiesparen zu setzen. Und das (auf drei Monate befristete) 9-Euro-Ticket im ÖPNV? Wem nützt es denn wirklich? Dort, wo das ÖPNV-Angebot unzureichend ist, wird es kaum Autofahrende in öffentliche Verkehrsmittel locken. Bei schon gutem Angebot müsste ein Umstieg in relevanter Größenordnung von parallelem Angebotszuwachs begleitet werden – aber dafür gibt es kein Geld (zuletzt konnten sich die Verkehrsminister*innen nicht einmal auf den für Angebotsausweitungen dringend notwendigen Aufwuchs der Regionalisierungsmittel verständigen). Und was ist eigentlich nach den drei Monaten? Werden da nicht Hoffnungen geweckt, dass die ÖPNV-Nutzung auf Dauer so billig sein kann? Dazu noch der bürokratische Aufwand für die Einführung des Tickets – vermutlich könnten die notwendigen Mittel für den ÖPNV an anderer Stelle deutlich sinnvoller eingesetzt werden. Was bleibt, ist Symbolpolitik.“

Erkenntnisse zu Wirkungen und Diskurs – eine zwiespältige Einschätzung

Jetzt, Anfang September, ist meine Beurteilung nicht viel anders. Zunächst das Positive:

  • Allein der Umfang der Diskussion, aber auch der Erwerb von 52 Mio. Tickets zeigen: Den Menschen in Deutschland ist der öffentliche Nahverkehr nicht egal. Das klingt selbstverständlich, aber für manche Politiker*innen, die jetzt auf den Diskussionszug aufspringen, scheint das tatsächlich eine neue Erkenntnis zu sein. Die Frage ist: Welche politischen Auswirkungen hat das auf lange Sicht?
  • Das 9-Euro-Ticket ist in jedem Fall ein sozialpolitischer Erfolg. Es hat die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs für jede*n erschwinglich gemacht. Und wenn dies bei Menschen mit geringem Einkommen die eine oder andere zusätzliche Aktivität (und damit Teilhabe am Leben in dieser Gesellschaft) ermöglicht hat, dann ist das positiv (auch wenn das Erzeugen von zusätzlichem Verkehr unter Nachhaltigkeitsaspekten grundsätzlich kritisch zu sehen ist).
  • Extrem deutlich ist geworden, dass niedrigschwelliger Zugang und einfache Tarife wesentliche Voraussetzungen sind, um neue Fahrgäste für den ÖPNV zu gewinnen. Das ist eigentlich keine neue Erkenntnis, aber auf jeden Fall ein Verdienst des Tickets, dass diese Botschaft und der daraus resultierende Handlungsbedarf auch in der Politik angekommen sind und dass offenbar tatsächlich ernsthaft an einer Lösung dieses Problems gearbeitet wird.

Es gibt aber auch jede Menge Fragezeichen:

  • Die Verlagerungseffekte weg von der privaten Autonutzung sind offensichtlich sehr begrenzt Das stellt den Umfang eines Beitrags des 9-Euro-Tickets zur Mobilitäts- und Verkehrswende zumindest ein Stück weit in Frage.
  • Vor diesem Hintergrund sind die ersten pauschalen Aussagen zum Einspareffekt des Tickets bei den CO2-Emissionen mit Vorsicht zu genießen. Dafür brauchen wir eine Gesamtbilanz, die auch die ausgelösten Mehrverkehre einbezieht (ja, auch der ÖPNV ist insgesamt betrachtet nicht CO2-frei unterwegs).
  • Bestätigt haben sich die frühzeitigen Hinweise vieler, dass allein eine isolierte Tarifmaßnahme den öffentlichen Verkehr nicht wirklich voranbringt. Angebotsumfang und -qualität sind vielerorts nicht darauf ausgelegt, Mehrverkehre in relevantem Umfang abzuwickeln bzw. eine angemessene Qualität der Beförderung der Fahrgäste aufrechtzuerhalten. Und dort, wo das ÖPNV-Angebot ohnehin sehr dünn ist, hat das Ticket kaum einen Mehrwert für die Bevölkerung und stellt auch keinen Anreiz dar, das eigene Mobilitätsverhalten zu ändern.
  • Die 2,5 Mrd. Euro, die das 9-Euro-Ticket für drei Monate gekostet hat, sind eine Menge Geld. Natürlich wird der private Autoverkehr auf vielen Ebenen ebenfalls subventioniert – aber das ist eine andere Diskussion. Ein großer Teil der Nutzer*innen des Tickets kann sich auch höhere Preise leisten – war es wirklich sinnvoll, das Geld mit der Gießkanne zu verteilen und so jede Menge Mitnahmeeffekte bei denen zu generieren, die darauf eigentlich nicht angewiesen waren?
  • Das 9-Euro-Ticket ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass zu einer erfolgreichen Mobilitäts- und Verkehrspolitik „pull“- und „push“-Maßnahmen gehören: „pull“ im Sinne von neuen und attraktiven Angeboten für ein nachhaltiges Mobilitätsverhalten, „push“ z. B. im Sinne von begleitender Regulierung zur „Deattraktivierung“ der privaten Autonutzung. Das 9-Euro-Ticket ist (mit all seinen Unzulänglichkeiten) eine klassische „pull“-Maßnahme – von angemessener „push“-Begleitung keine Spur (stattdessen ein „Tankrabatt“…).

In der Konsequenz beweist die Diskussion um das 9-Euro-Ticket nachdrücklich, dass wir in Deutschland auf der nationalen Ebene nach wie vor weit weg davon sind, auch nur ansatzweise eine konsistente ganzheitliche Mobilitätsstrategie zu verfolgen. Dem Entschluss zur Einführung des Tickets im Frühjahr lag kein strategischer verkehrspolitischer Ansatz zugrunde. Es gab keinen Plan für das „danach“. So aktionistisch die Maßnahme damals beschlossen wurde, so aktionistisch läuft auch die aktuelle Diskussion über die Bewertung des Erfolgs und eine Nachfolgeregelung. Ein schönes Beispiel dafür ist auch das Vorpreschen der Berliner SPD für eine Nachfolgeregelung nur für Berlin, ohne Rücksicht auf den (fachlich verantwortlichen) grünen Koalitionspartner, die Belange von Pendelverkehren, das benachbarte Land Brandenburg und den Verkehrsverbund. Das kann man wohlwollend als gedankenlos bezeichnen, es trägt aber auch populistische Züge.

Insofern bin ich einigermaßen erschüttert über die weitgehende Eindimensionalität der momentanen Diskussion über eine Nachfolgeregelung. Gerade die kritiklosen Forderungen nach einer bruchlosen Weiterführung und Finanzierung des 9-Euro-Tickets und die Hochstilisierung der Maßnahme als zentralem Beitrag für eine Mobilitätswende haben mit nachhaltiger Mobilitätspolitik im Sinne einer Verkehrswende nichts zu tun. Im Gegenteil, sie verengen den Blick zu Lasten anderer wichtiger Themen. Ohne Einbindung in eine Gesamtstrategie, die auch die oben skizzierten Fragen berücksichtigt, stehen Kosten und Nutzen in keinem angemessenen Aufwand.

Außer Spesen nichts gewesen? Das muss nicht sein!

Aber was heißt das nun in der Konsequenz, wie soll es weitergehen? Dazu ein paar abschließende skizzenhafte Gedanken:

  • Eine bundesweite Nachfolgeregelung zum 9-Euro-Ticket wird es geben, das ist spätestens seit der Kabinettsklausur in Meseberg klar. Darin liegen Chancen, die genutzt werden müssen – sozial-, verkehrs- und klimapolitisch.
  • Die Regelung muss den Einstieg in eine nachhaltige und dauerhafte Veränderung der zersplitterten Tariflandschaft im ÖPNV bedeuten – Einfachheit, Einheitlichkeit, Begreifbarkeit, Niedrigschwelligkeit und übergreifende Nutzbarkeit sind hier wichtige Stichworte. Länder, Verkehrsverbünde und Verkehrsunternehmen werden das alleine nicht lösen, das hat die Vergangenheit gezeigt – hier ist der Bund gefordert, Vorgaben zu entwickeln.
  • Auch der Preis ist wichtig, aber nur eine Facette. Es geht darum, vor allem gezielt für einkommensschwache Gruppen ein günstiges Angebot zu machen, als Beitrag zur Ermöglichung von mehr Mobilität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ein pauschaler Billigpreis für alle ist weder dauerhaft finanzierbar noch zielführend – was eine insgesamt deutlich attraktivere Preisgestaltung überhaupt nicht ausschließt.
  • Wenn jetzt im Zuge der aktuellen Diskussion häufig noch der Nachsatz kommt, „ach ja, wir brauchen natürlich auch einen Ausbau der ÖPNV-Infrastruktur und eine Ausweitung der Angebote“, hat das manchmal den Charakter von „das machen wir dann irgendwann auch noch, jetzt geht es um den Preis“. Das ist definitiv eine falsche Schwerpunktsetzung. Gerade weil der notwendige umfassende Ausbau des ÖPNV viel Zeit und finanzielle Ressourcen braucht, muss hier besonders dringend etwas passieren. Die Hängepartie zwischen Bund und Ländern zur Ausweitung der Regionalisierungsmittel muss schnellstmöglich beendet werden, der Infrastrukturausbau insbesondere für den schienengebundenen öffentlichen Verkehr benötigt dringend mehr Mittel.
  • Das alles funktioniert aber nur dann (auch das ist eine Erfahrung aus dem 9-Euro-Ticket), wenn es endlich auf nationaler Ebene eine verbindliche, integrierte, konsistente Mobilitätsstrategie gibt, mit klaren Zielen, passenden Instrumenten und dem notwendigen Werkzeug für die Umsetzung (Rechtsrahmen und Finanzierung). Das muss nicht so aussehen wie der Vorschlag für ein „Bundesmobilitätsgesetz“, den der VCD im vergangenen Jahr gemacht hat. Aber er zeigt auf, worum es geht – dazu gehört auch eine angemessene Regulierung des Autoverkehrs. Bislang ist weder im Bundesverkehrsministerium noch den Koalitionsfraktionen erkennbar, dass man zu diesem zwar großen, aber notwendigen Wurf bereit ist. Falls das 9-Euro-Ticket dazu einen entscheidenden Beitrag leisten sollte, dann hätte es sich allein schon deshalb gelohnt…

Ich bin gespannt, wie es weiter geht!