Selten hat mich im Kontext meiner beruflichen Tätigkeit etwas emotional so beschäftigt wie die Auseinandersetzungen und Diskussionen der letzten Wochen um das kleine Dorf Lützerath am Rande des Braunkohletagebaus Garzweiler II im Rheinischen Revier. Die Polarisierung zwischen „gut“ und „böse“, „richtig“ und „falsch“, „Freund“ und „Feind“ hat mich erschreckt. Ich war bis dahin davon ausgegangen, dass der sogenannte Kohlekompromiss vom vergangenen Jahr zwischen der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und RWE zwar „nur“ ein Kompromiss, aber eben doch ein bedeutender Schritt hin zu einem möglichst raschen Kohleausstieg ist, der immerhin ein Vorziehen des Ausstiegs aus der Kohleförderung in Garzweiler um 8 Jahre und den Erhalt von mehreren Dörfern westlich der jetzigen Abbruchkante des Bergbaus bedeutet – um den Preis, dass natürlich trotzdem noch weitere 8 Jahre abgebaggert und auch das (bereits weitgehend verlassene) Dorf Lützerath abgerissen wird. Habe ich mich gerirrt?

Natürlich ist dies aus Sicht des Klimaschutzes nicht das Optimum. Natürlich steigt von Tag zu Tag der Handlungsdruck, sektorübergreifend so rasch wie möglich aus den fossilen Energieträgern auszusteigen. Aber ist so ein Kompromiss deshalb gleich ein Irrweg? Bin ich nicht mehr Teil der Klimaschutzbewegung, weil ich glaube, dass Kompromisse unverzichtbarer Bestandteil der Veränderung sind? Verliert man die eigene Glaubwürdigkeit, wenn man beim Erreichen selbstgesteckter Ziele Abstriche macht? Natürlich gibt es jede Menge schlechter Kompromisse – Formelkompromisse, die auf eine Beibehaltung des Status quo hinauslaufen, faule Kompromisse, die der Verschleierung von Verschlechterungen oder des Nichtstuns dienen. Aber brauchen wir nicht trotzdem auch oder gerade in Krisensituationen Kompromisse als Ergebnisse von Aushandlungsprozessen, bei denen immerhin 85% des Wünschbaren erreicht wird, wenn auch nicht 100%? Und politisch verantwortliche Menschen, die bereit sind, sich auf solche Aushandlungsprozesse einzulassen? Gehöre ich nur zu den „Guten“, wenn ich stets auf den 100% beharre, ist es „Verrat“, wenn ich davon abweiche? Hilft es der notwendigen Veränderung, wenn ich Lützerath zum Symbol für die Glaubwürdigkeit von Klimaschutzpolitik erkläre, bis hin zum „Kipppunkt“, ob die Welt noch zu retten ist oder nicht?

Meine eigene „Lützerath-Geschichte“

Ich habe eine eigene kleine Vergangenheit zum Tagebau Garzweiler, auf die ich an dieser Stelle eingehen möchte. Im Sommer 2020 habe ich als Teil eines Teams gemeinsam mit den schwedischen Architekten Johannes Tovatt und dem deutschen Landschaftsplaner Herbert Dreiseitl an einem Werkstattverfahren teilgenommen, in dessen Rahmen sich insgesamt drei Teams eine Woche lang vor Ort Gedanken über die Nachnutzung des zentralen Bereichs des Tagebaus nach dessen Stilllegung gemacht haben (vorgegebenes Stilllegungsdatum: 2038). Diese wurden der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt und abschließend von einer Kommission (unter Einbeziehung von Expert*innen, der lokalen Politik, RWE u. a.) bewertet. Eingeladen zu diesem Werkstattverfahren hatte der Zweckverband „Landfolge Garzweiler“, dem vier an den Tagebau grenzende Kommunen angehören, als beratende Mitglieder außerdem die Region Köln-Bonn – und RWE.

Das war eine hochspannende Woche. Wir waren am und im Tagebau und haben diese verstörende Wunde in der Landschaft erlebt. Wir waren in den weitgehend verlassenen „Geisterdörfern“ wie Kuckum und Keyenberg, die seinerzeit Jahren noch zum Abriss vorgesehen waren, aber auch den von RWE als Ersatz für abgerissene Dörfer neu gebauten Siedlungen. Wir haben mit vielen Akteuren gesprochen, auch bei den trotz Pandemie gut besuchten Bürgerversammlungen in Erkelenz. Als wir bei der Konzeptentwicklung die Frage stellten, ob man nicht eigentlich szenarisch denken müsste, da ja vielleicht aufgrund zukünftiger Entwicklungen auch ein früheres Ausstiegsdatum denkbar sein könnte (wir nannten das das „Greta-Szenario“) und dann ja wichtige Rahmenbedingungen für die Konzeptentwicklung (z. B. die Lage der westlichen Abbruchkante) ganz anders aussehen würden, war die klare Ansage, dass so etwas nicht gewünscht sei. Das Ausstiegsdatum 2038 sei eine feste Vorgabe. Unser Konzept haben wir dann aber trotzdem so entwickelt, dass es grundsätzlich auch an frühere Ausstiegsdaten angepasst werden kann.

Ein Beitrag von mir zu unserem Konzept war eine kleine Geschichte, ein Blick zurück aus einer Zukunft zu Beginn der 2040er Jahre (mit der Ausgangslage eines Ausstiegsdatums 2038). Darin erleben zwei junge Menschen, Erika und Jochen, die Wiedergewinnung dieses verlorenen und zerstörten Orts. In dem Text geht es auch um einen kritischen Blick auf die Geschichte des Tagebaus. Ein Auszug:

„… Heute will sich Erika aber ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit widmen. Sie gehört zu einer Gruppe von Menschen, die in einem dafür freigehaltenen Teil des alten Kraftwerks (Frimmersdorf im Osten des Tagebaus) ein Museum einrichten, das die Erinnerung an die Geschichte dieser Region mit Fokus auf den Braunkohletagebau wachhalten soll… Erika selber war ja mit der letzten Phase des Tagebaus aufgewachsen, als das Ende schon absehbar war. Aber sie hatte noch mitbekommen, wie nahe Nutzen und Leid im Zusammenhang mit dem Tagebau beieinander lagen. Insgeheim sprach sie für sich immer vom ‚Museum über ein unbeabsichtigtes Verbrechen‘. Sie hatte gelernt, dass es keinen Sinn hatte, nach Schuldigen für das Leid zu suchen. Was vor vielen Jahrzehnten breit getragen als Quelle für Wohlstand und sichere Energieversorgung begonnen hatte, war irgendwann abgeglitten in eine sich verselbständigende Maschine, deren negative Auswirkungen auf Mensch und Umwelt immer offenbarer wurden. Den Ausstieg hatte man zu spät gefunden – und selbst der dauerte noch weitere quälend lange 20 Jahre, gefangen in Sachzwängen von Aushubvolumen, Wasserverseuchung und vielem anderen. Und doch: Es war irgendwann ein gemeinsames Zukunftsprojekt aller geworden. Erika war im Jahr 2020 auf die Welt gekommen (sie sprach von sich manchmal als „Pandemie-Kind“), dem Jahr, als die an den Planungen für das ‚Danach‘ Beteiligten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft endgültig ihr Kirchturmdenken überwanden und begannen, eine bereits ein paar Jahre früher entwickelte erste gemeinsame Vision in ein konkretes strategisches Konzept zu überführen – vielleicht auch unter dem Eindruck der durch die Corona-Pandemie deutlich gewordenen Vulnerabilität der Gesellschaft. Das Museum würde auch diesen Prozess mit den vielen neuen Ideen gerade in den für die Region so prägenden und wichtigen Bereichen Energie und Landwirtschaft dokumentieren. Es würde aber auch um die umfassenden negativen Konsequenzen und das Leid gehen, für die gesamte Gesellschaft (etwa durch den auch durch den Braunkohletagebau beschleunigten und jetzt alltäglich spürbaren Klimawandel) wie für den einzelnen Menschen. Erika selbst hatte lange Gespräche mit ihrer Urgroßmutter geführt, die zu den von einer Umsiedlung Betroffenen gehört hatte. Den Verlust der Heimat hatte sie nie wirklich überwunden, so großzügig das ein paar Kilometer entfernte neue Dorf mit dem alten Namen auch ausgestattet sein mochte…“

Im vergangenen Jahr wollte der Zweckverband im Rahmen einer Broschüre auch diese Geschichte veröffentlichen. Allerdings: RWE hatte Bedenken, diese (eigentlich im Duktus auf Versöhnung angelegte) Geschichte in ihrer ursprünglichen Form zu veröffentlichen und verlangte Kürzungen bzw. Änderungen. Ich habe daraufhin ein paar kleinere Anpassungen vorgeschlagen, die RWE aber nicht weit genug gingen – mit der Konsequenz, dass die Geschichte keinen Eingang in die Broschüre fand, weil ich weitergehenden Anpassungen im Sinne von RWE nicht zustimmen konnte und wollte.

Was habe ich daraus gelernt? Es gibt (leider) auch (oder gerade) bei so wichtigen Themen in der Regel keine einfachen Antworten. Das reicht von der technischen Komplexität des Stilllegungsprozesses eines Tagebaus bis zur sehr unterschiedlichen Einstellung der Menschen vor Ort, was den Umgang mit den (damals) zum Abriss vorgesehenen Siedlungen angeht. Aber auch: Die über Jahrzehnte gewachsene enge Verbandelung der Kommunen vor Ort mit RWE lässt sich zwar nicht so einfach von heute auf morgen lösen – doch die Einflussnahme des Konzerns auf das politische Handeln im Umfeld des Tagebaus bis in so absurde Einzelheiten wie die besagte Veröffentlichung ist erschreckend. Jeder öffentliche Druck auf die Politik, wieder eigenständiger und unabhängiger zu agieren, ist daher immens wichtig.

Lieber das „Gute“ in der Hand als das „Bessere“ auf dem Dach?

Was heißt das für die Ausgangsfrage? Das Sprichwort „Das Bessere ist des Guten Feind“ wird oft so interpretiert, dass das Gute nicht gut genug ist und stets das Bessere den Vorzug bekommen muss. Aber ist es nicht vielleicht häufig auch umgekehrt? Verhindert das Beharren auf dem (aktuell nicht erreichbaren) Besseren nicht häufig, dass wenigstens das Gute umgesetzt wird? Da sind wir dann wieder bei Lützerath und dem Braunkohleausstieg. Was hätte angesichts der Rechtslage und der politischen Mehrheitsverhältnisse eine Aufkündigung des Kohlekompromisses bedeutet? Was nützt es, sich als moralischer Sieger zu fühlen, aber nichts in der Hand zu haben?

Das bedeutet freilich nicht, sich immer mit dem „Guten“ zufrieden zu geben. Die Demonstrationen der Klimaschutzbewegung sind legitim und wichtig, auch die in Lützerath. Ich habe in früheren Phasen meines Lebens selbst in Gorleben auf der Straße gesessen, Atomwaffenlager blockiert, die eine oder andere nicht ganz legale Aktion durchgeführt und bereue nichts davon (selbst wenn ich heute hier und da vielleicht eine andere Einschätzung dazu hätte). Aber: Mit dem Absolutheitsanspruch an den Besitz der Wahrheit, der moralisierenden Schwarz-Weiß-Aufteilung in „gut“ und „böse“, dem Fokussieren auf Symbole wie Lützerath und die Macht der Bilder – und teilweise auch der Negierung der Notwendigkeit politischer Aushandlungsprozesse droht sich die Klimaschutzbewegung zu isolieren und zu marginalisieren. Und das darf nicht sein, dafür ist sie viel zu wichtig als Impulsgeberin für immens wichtige Veränderungen.

Ich bin froh, dass die Grünen sich nicht mehr als außerparlamentarische Opposition begreifen, die nur die reine Lehre predigt und sich der Übernahme von politischer Verantwortung entzieht. Dass sie Kompromisse in Kauf nehmen, um unter den gegebenen Rahmenbedingungen das Beste zu erreichen, Realpolitik machen, ihre Ziele neu justieren, auch dass sie bereit sind, sich die Hände schmutzig zu machen – wie soll sonst Veränderung passieren? Oder um es mit den Worten der SZ-Journalistin Meredith Haaf in einem Kommentar zu Lützerath zu sagen: „Politische Handarbeit braucht mehr Werkzeuge als eine Alarmsirene und einen Vorschlaghammer. Und es braucht durchaus Mut, Kompromisse zu erstreiten, in der Politik wie anderswo.“

Und die Verkehrswende?

Die Diskussion um Lützerath lässt sich teilweise durchaus auch auf die Verkehrswende übertragen (auch wenn bei dieser der räumliche und inhaltliche Fokus der Themen häufig deutlich schmaler ist). Auch da werden Diskussionen um Symbole geführt, auch da werden einzelne, in ihrer Gesamtwirkung eher marginale Maßnahmen zu Grundsatzentscheidungen über Gelingen oder Scheitern des notwendigen Wandels hochstilisiert – was es dann der „Gegenseite“ oft leicht macht, umso stärker den Status quo zu verteidigen. Dazu kommt gerade bei der Verkehrswende: Wenn es überhaupt schon eine gesellschaftliche Mehrheit dafür geben sollte, dann ist sie sehr labil, gerade in diesen Zeiten mit ihren besonderen Herausforderungen. Politik und die engagierte Zivilgesellschaft müssen dafür Sorge trage, dass eine solche Mehrheit dauerhaft für den Wandel gewonnen wird. Auch dazu wird es Pragmatismus und „gute“ Kompromisse brauchen, die vor allem rasch den positiven Mehrwert des Wandels sichtbar machen. Ganz viele Menschen versuchen tagtäglich durch ihre Arbeit in den Institutionen, in diesem Sinne diesen Wandel voranzubringen, in den Kommunalverwaltungen und anderswo.

Letztendlich in der Pflicht: die Politik

Auch wenn es in diesem Beitrag hauptsächlich um die Rolle der engagierten Zivilgesellschaft bzw. der Aktivist*innen geht, so gilt natürlich trotzdem: Verantwortlich ist letzten Endes die Politik. Und da sieht es auf Bundesebene leider weiterhin ziemlich düster aus. Solange sich gerade im Verkehrsbereich das Politikverständnis wesentlicher Akteure darauf beschränkt, gestaltende Politik mit Status-quo-Beharrung gleichzusetzen, neue Technologien als Allheilmittel für alle Probleme anzusehen und die Befriedigung der eigenen Parteiklientel zum Maßstab ihres Handelns zu machen, ist es kaum möglich, „gute“ Kompromisse zu erreichbaren. Da braucht es mehr denn je konstruktive und auch laute Kritik, aus den Institutionen wie aus der Zivilgesellschaft. Erfolge wie die breite Unterstützung der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ auf der kommunalen Ebene quer durch die Parteienlandschaft und gerade auch in kleinen Kommunen im ländlichen Raum machen dabei bei aller Kritik ein bisschen Mut.

Da passt dann auch wieder mein optimistisches Lieblingszitat von Leonard Cohen: „There’s a crack in everything. That’s how the light gets in.“