Als am 24. November vergangenen Jahres der Bundesrat zusammentrat, um u. a. über die Novellierung von Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung zu beraten, saß ich vor meinem Laptop und verfolgte den Livestream, guten Mutes, dass die erforderlichen Beschlüsse gefasst würden. Für mich war der Tag insofern ganz besonders, als er quasi das 40-jährige Jubiläum meiner eigenen beruflichen Beschäftigung mit dem Thema stadtverträglicher Geschwindigkeiten bedeutete, mit der Aussicht auf einen langersehnten ersten wichtigen Erfolg hinsichtlich des entscheidenden Rechtsrahmens. Ein kleiner Blick zurück…

Die 1980er: Eigentlich ist klar, was passieren muss…

Während meines Studiums der Stadtplanung in Kassel machte ich im Herbst 1983 ein erstes Praktikum beim Amt für Stadtplanung und Stadterneuerung der Stadt Kassel, in der Abteilung Verkehrsplanung. Die Straßenverkehrsordnung war gerade erst dahingehend novelliert worden, dass Tempo 30-Zonen in reinen Wohngebieten eingerichtet werden durften, allerdings nur bei umfangreichen begleitenden baulichen Maßnahmen, durch die die niedrigeren zulässigen Höchstgeschwindigkeiten verdeutlicht werden sollten. Schon damals fragte ich mich, warum Hauptverkehrsstraßen von dieser Neuregelung ausgenommen waren, wo doch gerade dort die Hauptprobleme in Sachen Verkehrssicherheit, Überquerbarkeit, Radverkehr, Lärmbelastungen etc. lagen. Mein Praktikumsprojekt bestand deshalb darin, mir die Hauptverkehrsstraßen in den eng bebauten Stadtteilzentren genauer anzuschauen, wo die genannten Probleme besonders massiv auftraten und in der Regel keine separate Radverkehrsinfrastruktur vorhanden war. Das Ergebnis war eine Magistratsvorlage mit Empfehlungen, in welchen Abschnitten dieser Hauptverkehrsstraßen mit welcher Begründung Tempo 30 eine sinnvolle Lösung wäre. Vor jetzt über 40 Jahren…

Die 1990er: Veränderung braucht Zeit

Das Thema begleitete mich fortan kontinuierlich auf meinem beruflichen Lebensweg, auch (noch als Student) in der Verbandsarbeit im neu gegründeten „Forum Mensch und Verkehr“ in der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung e. V. (SRL), das sich in einer seiner ersten Veröffentlichungen dem Thema verträglicher Höchstgeschwindigkeiten auf Autobahnen, Land- und Innerortsstraßen widmete. 1991 trat ich als „fertiger“ Stadtplaner meine erste Stelle bei der Stadt Kassel an. Kassel war damals in Deutschland führend bei der Umsetzung von Tempo-30-Zonen in Wohngebieten gemäß der o. g. StVO-Neuregelung. Ziel war es, so rasch wie möglich außerhalb der Hauptverkehrs- und Gewerbestraßen Tempo 30 flächendeckend einzuführen. Um für die einzelnen Zonen den Umsetzungsanforderungen der StVO gerecht zu werden, wurde mit Provisorien gearbeitet: durch bloße Markierungen und mit Sperrbaken gesicherte Sperrflächen, verengte Eingangsbereiche und Querungsstellen – was wir heute durchaus wieder von provisorisch eingerichteten „Kiezblocks“, Durchfahrtssperren oder geschützten Radfahrstreifen kennen. Die Umsetzung ging rasch vonstatten – zu rasch. Trotz Absicherung durch Beschlüsse der politischen Ortsteilgremien und (für damalige Verhältnisse durchaus umfassende) Bürgerinformation war die Veränderungsgeschwindigkeit für die Stadtgesellschaft zu hoch. Begleitet durch viel mediale Kritik verlor die SPD in Kassel bei der Kommunalwahl 1993 20% der Stimmen und die Macht. Das Amt für Stadtplanung und Stadterneuerung wurde zerschlagen, die Verkehrsplanung dem Tiefbau- und Ordnungsamt zugeordnet, das dem CDU-geführten Rechtsdezernat unterstand. Zu den ersten öffentlichkeitswirksamen Aktionen des neuen Dezernenten gehörte die Rücknahme einiger der beschriebenen Maßnahmen (wenn auch bei weitem nicht aller). Einschneidender waren die grundsätzlichen Umstrukturierungen und das weitgehende Ersticken fortschrittlicher verkehrspolitischer Ansätze – für mich der entscheidende Grund, 1995 der Kasseler Stadtverwaltung den Rücken zu kehren.

Die 2000er: Die Mühlen der Umsetzung

In den 12 Jahren meiner Tätigkeit als Leiter der Verkehrsplanung bei der Stadt Göttingen ab 1996 stand das Geschwindigkeitsthema immer wieder im Mittelpunkt, sei es bei der Verkehrsentwicklungsplanung, der Verkehrssicherheitsarbeit oder der Radverkehrsförderung (gerade angesichts der in Göttingen oft schmalen Straßenquerschnitte mit wenig Spielraum für angemessene Radverkehrsanlagen). Immer wieder stellte sich den besten Lösungen ein unflexibler Rechtsrahmen entgegen, mit gleichermaßen unflexiblen Aufsichtsbehörden. Zwei Beispiele: Anfang der 2000er Jahre wurde eine wichtige Nord-Süd-Verbindung östlich der Innenstadt komplett saniert und neugestaltet, mit Fördermitteln aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG). Da der schmale Straßenquerschnitt auch nicht annähernd den Bau adäquater Radverkehrsanlagen gestattete, gab es breite Zustimmung für eine Planung mit vergleichsweise schmalen Fahrbahnen und relativ breiten Gehwegen bei gleichzeitiger Einführung von Tempo 30. Die Folge: Nach Fertigstellung der Maßnahme verlangte die Bezirksregierung, auf den Vollzug der Anordnung von Tempo 30 zu verzichten und drohte damit, andernfalls die GVFG-Fördermittel zurückzufordern. Letztendlich gab die Stadt Göttingen nach. Ganz ähnlich war es einige Jahre später, als bei einer anderen Hauptverkehrsstraße die Aufsichtsbehörde eine Tempo-30-Anordnung aus Lärmschutzgründen für nicht zulässig befand. Göttingens damaliger Stadtbaurat Thomas Dienberg (später in Leipzig Initiator der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“) ließ aus Protest die Tempo-30-Schilder noch mehrere Jahre hängen – nur mit einem roten Balken als ungültig gekennzeichnet.

Die 2010er: Bohren im dicken Brett

2008 ging ich zum Berliner Senat, zunächst als Leiter des Grundsatzreferats in der Verkehrsabteilung, später übernahm ich die Leitung der Abteilung. Damit war ich weiter weg von den konkreten Projekten, dafür näher an den grundsätzlichen strategischen Ausrichtungen und (aufgrund der Rolle Berlins als Bundesland) auch näher an der Bundespolitik. In diesen Jahren hat der Berliner Senat immer wieder versucht, über die Verkehrsministerkonferenz und über den Bundesrat den Rechtsrahmen für den Straßenverkehr im Sinne von mehr kommunaler Handlungsfreiheit zu verändern – weitgehend ohne Erfolg und mit wenig Echo bei den anderen Bundesländern. Gleichzeitig wurde Berlin deutschlandweit und auch international führend bei der Anordnung von Tempo 30 aus Lärmschutzgründen, später auch hinsichtlich der Luftreinhaltung. Und eine vom Senat in Auftrag gegebene Studie wies 2014 erstmals nach, dass Tempo-30-Anordnungen im Hauptverkehrsstraßennetz keine negativen Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit haben müssen, zu keinen nennenswerten Verlagerungen ins Nebennetz führen und real zu einer spürbaren Senkung des Geschwindigkeitsniveaus führen, auch bei mehrstreifigen Fahrbahnen – immer vorausgesetzt, es wird sorgfältig geplant, umgesetzt und kommunikativ begleitet.

Die 2020er: Einstieg in den Wandel

Mit meinem Wechsel in die Freiberuflichkeit im Jahr 2017 verlagerte sich meine Befassung mit dem Thema Stadtgeschwindigkeiten weiter auf die (bundes)politische Ebene. Als wichtiger regulativer Ansatz für die kommunale Verkehrswende war es immer präsent, sei es in Strategiepapieren für den Deutschen Städtetag oder bei der Begleitung kommunaler Mobilitätsplanprozesse. Als Anfang 2021 auf Initiative des Leipziger Baubürgermeisters Thomas Dienberg die Bildung der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ ihren Anfang nahm, ahnte niemand, welche Dynamik diese Entwicklung bekommen würde – und wie groß trotzdem weiterhin die Hindernisse für den notwendigen Wandel sein würden. Ich durfte die Initiative von Beginn an unterstützen, vom Gewinnen der sieben „Gründerstädte“ (neben Leipzig Aachen, Augsburg, Freiburg, Hannover, Münster und Ulm) über die Formulierung des vierseitigen Grundsatzpapiers mit den Forderungen der Initiative, die Vorbereitung der Veranstaltung am 05.07.2021 als erster Gang an die Öffentlichkeit bis zu all den folgenden Aktivitäten (Ausweitung der Initiative, Vernetzung mit Bundespolitik und Verbänden, weitere Online-Konferenzen, kritische Begleitung der Novellierungsentwürfe für StVG und StVO etc.). Das war eine Reise mit viel auf und ab, mit Ermutigung und Frustration, aber immer getragen von dem großen Engagement und auch politischen Mut der vielfältigen Mitglieder der kommunalen Familie. Und nun saß ich da also am 24. November 2023 vor dem Bildschirm, in Gedanken schon die Flasche Sekt geöffnet, um nach 40 Jahren einen vielleicht entscheidenden Schritt des Wandels zu feiern…

Und heute? Was haben wir erreicht?

Der Rest ist bekannt. Wider aller Vorhersagen und Vorabsprachen verweigerte der Bundesrat der Straßenverkehrsrechtsnovelle die Zustimmung und rief nicht einmal den Vermittlungsausschuss an. Enttäuschung und Frustration waren riesig. Die Novelle war ja nicht einmal der große Wurf, sondern nur ein erster Einstieg, insbesondere durch die Änderungen im besonders „dicken Brett“ StVG. Die Ablehnung schien vor allem Teil eines großen politischen Taktierens, ohne Rücksicht auf die Inhalte und auf die Nöte der Kommunen.
Was folgte, war ein unwürdiges Gezerre zwischen Bund und Ländern, das eher einen Beitrag zur Politikverdrossenheit leistete als der Lösungsfindung diente. Viele Beteiligte hatten eine Lösung des Konflikts in dieser Legislaturperiode bereits abgeschrieben. Und dann ging es plötzlich doch ganz schnell. Eine für alle Seiten gesichtswahrende Lösung mit einer kleinen, den Grundduktus nicht beeinträchtigenden Änderung im Gesetzestext war gefunden, am 21.6.2024 beschlossen Bundestag und Bundesrat das neue StVG, am 5.7. folgte der abschließende Beschluss der novellierten StVO.
Und nun? Freudentänze, Müdigkeit, Durchatmen? Von allem etwas… Die neue Rechtslage ist bei weitem noch nicht das, was die Kommunen benötigen. Immer noch ist der Begründungsaufwand für viele eigentlich sinnvolle Anordnungen hoch, immer noch ist manches Sinnvolle nicht ohne weiteres möglich, immer noch fehlt eine wirklich praktikable Experimentierklausel. Und doch: Grundduktus der Novelle ist eine Abkehr von der Dominanz der Belange des Autoverkehrs u. a. durch die Stärkung der Belange von Städtebau, Klimaschutz und Umwelt bei den verkehrsbehördlichen Anordnungen, aber auch durch die neue Nachrangigkeit der Leichtigkeit gegenüber der Sicherheit und die eine oder andere neue konkrete Erleichterung in der StVO. Jetzt heißt es für die Kommunen, die neuen Spielräume zu nutzen (und möglichst offensiv zu interpretieren) und gleichzeitig den Druck für weitere notwendige Reformen hochzuhalten.
Für mich fast die wichtigste Errungenschaft ist aber die Erfahrung für alle Beteiligten, dass es der Städteinitiative mit ihrer Basisorientierung und Überparteilichkeit gelungen ist, einen entscheidenden Beitrag zu diesem Erfolg zu leisten. Dazu gehören auch die in den Stadt- und Gemeinderäten der ca. 1.100 Mitgliedskommunen nach schwierigen, kontroversen und teils leidenschaftlichen Diskussionen gefassten Beschlüsse, der Initiative beizutreten. Das ist tatsächlich gelebte Demokratie und fördert das Vertrauen in die Politik mehr als so manches, das zuletzt auf anderen Ebenen passiert ist.

Einstieg in einen Paradigmenwechsel

Was bleibt für mich persönlich, nach über 40 Jahren Befassung mit diesem Thema? Man mag sagen, dass das doch nur ein weiterer kleiner Schritt ist auf dem mühsamen Weg zum Mobilitätswandel in den Kommunen hin zu mehr Lebensqualität und Stadt- bzw. Umweltverträglichkeit. Aber ich glaube schon, dass es auf lange Sicht ein entscheidender Schritt gewesen sein kann und dass man vielleicht in 20 Jahren in der Rückschau sagen wird, dass diese „kleine“ Straßenverkehrsrechtsnovelle im Jahr 2024 und vor allem der sie begleitende Prozess einschließlich der Rolle der Städteinitiative der Einstieg in einen Paradigmenwechsel waren, hin zu einem menschenzentrierten Verständnis des Rechtsrahmens für die Mobilitäts- und Verkehrspolitik.

Wer meine Blogbeiträge regelmäßig liest, weiß, dass ich immer mal wieder gerne eine Stelle aus Leonard Cohens „Anthem“ zitiere, gerade auch als Mutmacher in schwierigen Zeiten. Und selten passt es besser als zu diesem Thema eines möglicherweise eingeleiteten Paradigmenwechsels:
“There is a crack, a crack in everything
That’s how the light gets in.”