Mancher mag sie vielleicht gar nicht mehr hören, die Diskussion über ein Tempolimit wo auch immer und aus welchen Gründen auch immer. An einer mangelnden verkehrs- und umweltpolitischen Bedeutung kann es nicht liegen. Aber bei kaum einem anderen Thema gerät die Diskussion so schnell in ein Fahrwasser, das nur noch sehr bedingt mit sachlichen Argumenten zu tun hat, sondern vielmehr mit vorgefassten Meinungen, Emotionen, Ängsten und Irrationalitäten. Das lässt sich übrigens nicht nur einer Seite zuordnen.

Warum auch Menschen mit gesundem Menschenverstand ein Tempolimit fordern dürfen…

Der jüngste Anlass, bei dem sich dieses Schema wieder bestens beobachten ließ, waren offensichtlich gezielt geleakte Informationen aus der Arbeitsgruppe 1 der “Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität” (NPM), welche die ziemlich undankbare Aufgabe hat, in kurzer Zeit Vorgaben und Vorschläge für das Klimaschutzgesetz des Bundes aus verkehrlicher Sicht zu entwickeln. Vor einigen Wochen drang nach außen, dass zu dem umfangreichen Maßnahmenpaket, das in dieser AG seinerzeit diskutiert wurde, auch eine generelle Begrenzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf Bundesautobahnen auf 130 km/h gehörte. Das mediale Echo war enorm, die Aufregung ebenso, bis dahin, dass der Bundesverkehrsminister sich um den gesunden Menschenverstand derjenigen sorgte, die solche Ideen in Erwägung ziehen (mehr dazu hier). Ein ernsthafter inhaltlicher Diskurs zum “ob” und “wie” einer solchen Maßnahme fand (wieder einmal) kaum statt. Dazu kam die schon gewohnte Banalisierung, es gebe ja schon fast überall eine Geschwindigkeitsbegrenzung (normalerweise, also ohne Baustellen, besteht allerdings auf 70% der Autobahn-km dauerhaft oder temporär „freie Fahrt“).

Welche Punkte würden denn zu einer vernunftbasierten Diskussion gehören?

  • Das eigentlich Hauptthema in der Diskussion pro und kontra Tempolimit ist in der Regel die Verkehrssicherheit. „Die Autobahnen sind die sichersten Straßen überhaupt“ ist ein Standardsatz der Gegner einer Geschwindigkeitsreduzierung, meist verbunden mit einem Hinweis auf die Relation von Verkehrsleistung und Unfallzahlen bzw. Personenschäden im Vergleich zu Land- und Innerortsstraßen. Das ist zunächst einmal kein Argument zur Frage, ob ein Tempolimit objektiv positive oder negative Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit hat. Hier sieht es recht eindeutig aus: sämtliche ernstzunehmenden Untersuchungen weisen positive Effekte nach, nicht nur in der Theorie, auch in der Praxis, mit einer deutlichen Reduzierung der Anzahl der Verletzten und Getöteten in einem Bereich von meist zwischen 20 und 30%, teilweise auch noch mehr. Auch wenn wir uns bei den Getöteten auf Bundesautobahnen erfreulicherweise „nur“ noch im dreistelligen Bereich bewegen, ist das immer noch eine relevante Größenordnung – erst recht aber bei den Tausenden von Schwerverletzten, die oft ein ganzes Leben unter den Auswirkungen eines Unfalls leiden, aber in der politischen Argumentation meist eine beschämend geringe Rolle spielen.
  • Viel zu wenig im Fokus, aber gerade für die Autofahrenden wichtig ist das Thema Verkehrsfluss/Stauvermeidung als Wirkung eines Tempolimits. Auch da sind die nüchternen Fakten eindeutig: je niedriger die Geschwindigkeitsdifferenzen, desto geringer die Wahrscheinlichkeit von Staus (ohne Anlässe wie Baustellen, Unfälle etc.). Die höchste Leistungsfähigkeit der einzelnen Fahrstreifen auf Autobahnen liegt bei Geschwindigkeiten von unter 100 km/h. Die so plakativ geforderte „freie Fahrt“ ist also eigentlich bei einem Tempolimit deutlich wahrscheinlicher – und man braucht damit auch nicht bis zur Automatisierung des Verkehrs zu warten (dann spätestens werden deutlich niedrigere Höchstgeschwindigkeiten als heute notwendig sein, um den Verkehrsfluss zu erhalten und Berechenbarkeit im Gesamtsystem zu haben)…
  • Direkt damit zusammen steht ein Faktor, der sich nicht so einfach mit Zahlen messen lässt: die Auswirkungen auf das persönliche Befinden der Menschen, die auf den Autobahnen unterwegs sind. Fast alle dürften das kennen: sobald man sich auf den Autobahnen im Ausland befindet, ist das Autofahren plötzlich viel entspannter – dank Tempolimit. Keine Drängler im Rückspiegel, weniger Bummler vor einem – man ist aufgrund der geringeren Geschwindigkeitsdifferenzen im „flow“, in einem deutlich harmonischeren Verkehrsfluss. Die Fahrt auf der Autobahn ist plötzlich viel stressfreier.
  • Der Beitrag eines Tempolimits auf Autobahnen zur CO2-Reduzierung ist in Relation zum gesamten Minderungsbedarf im Verkehrssektor durchaus überschaubar. Aber muss das heißen, dass die Maßnahme per se in einem Maßnahmenkatalog zum Klimaschutz für den Verkehrsbereich nichts zu suchen hat? Dass es gerade in diesem Sektor nicht den “Königsweg” gibt, sondern viele verschiedene Maßnahmen notwendig sind, um die Klimaziele zu erreichen, ist eigentlich bekannt. Der Klimaschutz ist ganz sicher nicht das Hauptargument für ein Tempolimit, wer die Diskussion darauf reduziert, hilft der Sache kaum. Aber auch da gilt: die positiven Effekte sind da. Und: ein Tempolimit ist so ziemlich die kostengünstigste und am schnellsten umsetzbare Maßnahme zur CO2-Reduzierung im Verkehrssektor – was den vergleichsweise geringen quantitativen Effekt durchaus relativiert.

All diese Fakten (und auch weitere, vor allem umweltbezogene Aspekte etwa hinsichtlich Flächenverbrauch und Lärm) sind im Prinzip lange bekannt. Aber wie gelangt man zu einem rationalen Diskussionsniveau bei diesem Thema, und das in Zeiten, in denen auch bei Auseinandersetzungen zu fachlichen Themen mit politischen Implikationen allzu oft Vereinfachung und Schwarz-Weiß-Denken vorherrschen?

Auf dem Weg zum Tempolimit: ein neues Oberthema und neue Bündnispartner

Dass es momentan kaum möglich erscheint, die Diskussion um ein Tempolimit differenziert und abwägend zu führen, um daraus dann auch tatsächliches reales politisches Handeln abzuleiten, ist – man kann es nicht anders sagen – eklatantes Politikversagen, und zwar vor allem der Bundespolitik (die zu Beginn erwähnte Äußerung des Bundesverkehrsministers ist da nur eine Facette). Angesichts der Themen um die es geht, Verkehrssicherheit, Klimaschutz, Lebensqualität, ist das keine Banalität.

Wird das immer so bleiben? Das darf es eigentlich nicht… Und es gibt zwei Ansätze, die man für einen Wandel nutzen könnte:

  • Es ist offenbar vergebene Liebesmüh, mit einzelnen Argumenten durchzudringen. Was es braucht, ist eine Klammer, ein Oberthema, das positiv besetzt ist und unter dem sich die einzelnen Argumentationsstränge einordnen lassen. Es geht insgesamt um das Thema Lebensqualität, und zwar für den einzelnen wie für die Gesellschaft. Entspannteres und sichereres Fahren, weniger Staus und besserer Verkehrsfluss auf der einen Seite – weniger Verkehrsopfer und bessere Umweltqualität auf der anderen. Eine schlüssigere Argumentation ist kaum denkbar – und passt letztendlich auch zum Begriff der Freiheit, dem Anspruch auf möglichst viel Freiheit von Einschränkungen der persönlichen Lebensqualität.
  • Die vermeintlich bekannten Fronten von Befürwortern und Gegnern eines Tempolimits sind möglicherweise gar nicht so starr, wie man denkt. Warum nicht ein ganz neues Bündnis für eine sachliche Diskussion schmieden? Da die umweltrelevanten Aspekte nicht wirklich die entscheidenden sind, geht es eigentlich vor allem um Stakeholder aus den Bereichen Verkehrssicherheit, Gesundheit und – Wirtschaft. Unfallforscher, Ärzte, die Polizei – sie alle äußern sich bereits, wenn auch noch eher zurückhaltend. Aber das schlagendste Argument ist eigentlich das der wirtschaftlichen Vernunft. Es geht dabei nicht nur um niedrigere Kosten für die Volkswirtschaft (geringere Unfallkosten, weniger Folgekosten durch Umweltschäden), sondern auch um klare Vorteile für einzelne Branchen. Die gesamte Transport- und Logistikbranche würde von einem Tempolimit profitieren, nicht nur weil für einen Großteil der Fahrzeuge dieser Branche eine Begrenzung auf 130 km/h ohnehin keine direkten Auswirkungen hätte. Entscheidend sind die positiven Effekte auf Verlässlichkeit und Pünktlichkeit, Aspekte, von denen die Branche stark abhängig ist (und die Empfänger von Ladungen natürlich im Endeffekt auch). Dazu kommen bessere Arbeitsbedingungen durch Stressabbau für das Fahrpersonal. Und die Autoindustrie? Sie hat sich in den letzten Monaten in dieser Diskussion erstaunlich zurückgehalten. Natürlich wird sie einem Tempolimit nie offensiv Vorschub leisten. Aber sie hat weit größere Sorgen und der Absatz auch ihrer größeren PKW hängt nicht wirklich entscheidend davon ab, ob in Deutschland noch 230 oder 130 km/h schnell gefahren werden darf. Ich bin sicher: sie würde bei einem klar erkennbaren politischen Willen einer Bundesregierung keinen Aufstand anzetteln. Dass Volvo jüngst angekündigt hat, nur noch Autos zu bauen, die maximal 180 km/h auf die Straße bringen, mag auch eine Marketingmaßnahme sein – sie zeigt aber auch, dass es da keine starren Fronten gibt.
Die Kernfrage: ist Politik lernfähig?

Ist dieser Paradigmenwechsel in der Diskussion zu schaffen? Siegfried Brockmann, als Leiter der Unfallforschung beim Gesamtverband der Versicherungswirtschaft (GDV) einer der bundesweit führenden Experten zum Thema Verkehrssicherheit, hat jüngst in einem bemerkenswerten Gespräch mit der „Berliner Zeitung“  zum Thema Raserei generell sehr prägnant die bereits aufgeführten Argumente für ein Tempolimit aus dem Blickwinkel der Verkehrssicherheit beschrieben. Gleichzeitig hat er aber auch deutliche Skepsis hinsichtlich der Erreichbarkeit einer solchen Regelung kundgetan und dabei auf folgende Aspekte hingewiesen: Brockmann schätzt die Durchsetzbarkeit eines Tempolimits aufgrund der derzeitigen Rahmenbedingungen (zu niedrige Bußgelder, sehr begrenzte Kontrollkapazitäten) als problematisch ein und sieht das Risiko, dass eine solche Maßnahme deshalb scheitern könnte – was ein fatales Signal hinsichtlich der Durchsetzungskraft des Staates bei Gemeinwohlinteresse wäre. Damit zusammen hängt auch sein Hinweis auf ein „gesamtgesellschaftliches Gefüge (…), das schnelles Fahren nicht stigmatisiert, sondern begünstigt“, mit einem Staat, der daraus resultierendes Fehlverhalten nicht ernsthaft verfolgt.

Das sind sehr ernstzunehmende Argumente. Und deshalb ist Brockmanns Forderung nach einer gesamtgesellschaftlichen Debatte, wie wir individuelle Mobilität verstehen, eine ganz zentrale (das Versäumnis vor allem auf Bundesebene, einen dringend notwendigen gesamtgesellschaftlichen Dialog zu initiieren, gilt auch für das Thema der Verkehrswende insgesamt, mehr dazu hier). Es gilt aber auch: es wäre nicht das erste mal, dass eine Maßnahme im Bereich Regulierung vor ihrer Einführung extrem umstritten war und danach erstaunlich rasch und unaufgeregt eine weitgehende Akzeptanz gefunden hat. Im Verkehrsbereich reicht das Spektrum von der Einführung der Gurtpflicht vor bald einem halben Jahrhundert bis zur Einführung von Parkraumbewirtschaftung in einzelnen Stadtquartieren. Und vielleicht erinnert sich die eine oder der andere noch an die Diskussionen vor der Einführung des Rauchverbots in Gaststätten… Insofern scheint mir die wichtigste Voraussetzung der politische Wille zu sein. Wenn dieser Wille deutlich und klar artikuliert wird, dann erweist sich der vermeintliche Volkszorn am Ende doch als Sturm im Wasserglas. Ein derartiges Agieren des Bundes (und auch der Länder) zu befördern, dazu brauchen wir die erwähnten neuen Bündnisse und eine Fokussierung auf die entscheidenden Argumente mit der Überschrift “Lebensqualität”. Die CO2-Minderung ist dann ein sehr willkommener Beifang. Und wenn das dann dazu führt, dass auch die Diskussion um ein stadtverträgliches Geschwindigkeitsniveau innerorts eine andere Basis bekommt… Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.