Als ich kürzlich einen Blick in meinen „Weihnachtswünsche“-Blog aus dem letzten Dezember warf und das in Bezug zum gerade überstandenen Bundestagswahlkampf und den Erwartungen an eine neue Bundesregierung setzte, musste ich mir eingestehen: Das zu bohrende Brett scheint eher dicker geworden zu sein… Wir dürfen uns nichts vormachen: Wir sind immer noch weit weg von stabilen politischen, aber auch gesellschaftlichen Mehrheiten, die eine konsequente Mobilitäts- und Verkehrswende mit allen notwendigen Maßnahmen mittragen würden. Darüber dürfen auch Umfrageergebnisse mit vermeintlich klaren positiven Bekenntnissen breiter Teile der Gesellschaft zu einem Wandel nicht hinwegtäuschen.

Das ist allerdings zunächst vorrangig ein Versagen der Politik und nicht der Bürger*innen. Anstatt an die zwar zögerliche, aber doch grundsätzlich in breiten Teilen der Bevölkerung vorhandene Bereitschaft zur Veränderung anzuknüpfen und die Menschen an dieser Schnittstelle zwischen grundsätzlicher Sympathie und Skepsis abzuholen, bestärken große Teile der Verantwortlichen wider besseren Wissens die Einstellung, dass ein „weiter so“ in Form eines auf ein bisschen Technologie und Wirtschaftskraft reduzierten Wohlfühlprogramms irgendwie auch funktioniert. Es wird so getan, als sei „wasch mir den Pelz und mach mich nicht nass“ tatsächlich eine realistische Perspektive, wenn es um den Klimawandel und die damit verbundenen Handlungsfelder geht.

Im Wahlkampf hat sich dieser Trend noch verstärkt. Wenn weite Teile der Politik den Eindruck vermitteln, wir hätten immer noch unendlich viel Zeit, es gehe jetzt erst einmal vorrangig um Stabilität und Aufschwung, beim Thema Klimaschutz müsse man vor allem unter Kostenaspekten sorgfältig abwägen, was gehe – dann darf man sich wiederum nicht wundern, wenn (wie auch das Wahlergebnis zeigt) viele Bürger*innen diesen angebotenen Notanker dankbar annehmen. Wir alle sind ein Stück weit erschöpft von der Pandemie und ihren Herausforderungen. Unsere Gesellschaft ist ohnehin nicht besonders veränderungsaffin. Und das Klimathema ist offenbar trotz diverser Rekordsommer und der diesjährigen Flutkatastrophe für viele Menschen in diesem Land immer noch so weit weg von den eigenen Alltagssorgen, dass Verdrängungsmechanismen bestens funktionieren. Dass die Politik diese Einstellungen zu großen Teilen mit den erwähnten Botschaften bedient, mag unter wahltaktischen Gesichtspunkten ein Stück weit verständlich sein – letztendlich ist es aber verantwortungslos. Denn wenn die Verantwortlichen den Mut finden würden, die Notwendigkeit von Veränderungen zu erklären, diese Veränderungen zu gestalten und zu moderieren, zu handeln statt zu verzögern – dann bin ich sicher, dass sich die Mehrheiten für dieses Handeln finden würden. Oder wie es Carolin Emcke in einem Text für die „Süddeutsche Zeitung“ am Tag vor der Wahl ausgedrückt hat: „Das Publikum hat ein Recht, nicht verschont zu werden von den großen Fragen der Gegenwart.“ Menschen sind auch bereit, Zumutungen anzunehmen (das haben sie in der Pandemie jüngst bewiesen) – und zwar vor allem dann, wenn ihnen die Gründe einsichtig erscheinen und der durch die Veränderung und den Verhaltenswandel erreichbare positive Mehrwert vermittelt wird. Dazu braucht es einen Diskurs auf den unterschiedlichsten Ebenen mit den unterschiedlichsten Formaten, der sich auch der Komplexität der Thematik stellt und nicht das Spiel der Schwarz-Weiß-Infantilisierung mitmacht. Dass dieser Diskurs seitens der Bundespolitik so gut wie nicht geführt worden ist, stellt für mich mit das größte aktuelle Politikversagen dar.

Heruntergebrochen auf das Themenfeld Mobilität und Verkehr zeigt sich diese Diskursverweigerung besonders schön durch die Wahl der Sprache, z. B. in der absurden Reduzierung von Positionierungen auf einen vermeintlichen Angriff auf die „Freiheit“ durch „Verbote“. Tempo 130 auf Autobahnen etwa ist kein Verbot, sondern angesichts der vielen eindeutigen fachlichen Argumente (von der Reduzierung der CO2-Emissionen über die Erhöhung der Verkehrssicherheit bis zum besseren Verkehrsfluss) schlicht und einfach eine notwendige Regulierung im Sinne des Gemeinwohls, die letztendlich sogar der Freiheit der gesamten Gesellschaft zu Gute kommt – niemand wird in seiner Mobilität eingeschränkt.

Die Protagonistinnen der Mobilitäts- und Verkehrswende müssen sich allerdings auch an die eigene Nase fassen, wenn aus dem Wahlergebnis auf Bundesebene nicht unbedingt ein klarer Auftrag für die rasche Umsetzung der Mobilitäts- und Verkehrswende abzulesen ist. Auch sie schätzen die Notwendigkeit eines offenen Diskurses, der auch Lebenslagen einbezieht, die nicht der Großstadtinnenstadtbubble entsprechen (räumliche, soziale, ökonomische…), oft zu gering. Wenn die Forderungen (die teilweise ebenfalls eher holzschnittartig sind und manche Lebenswirklichkeiten ausblenden) dann noch durch einen allzu moralisierenden Tonfall begleitet werden, muss man sich nicht wundern, wenn viele Menschen sich davon schlicht nicht angesprochen bzw. nicht ernstgenommen fühlen – und dann dicht machen. Die oft zu hörende Forderung „es ist genug geredet – jetzt einfach machen!“ greift deshalb zu kurz. Natürlich muss mehr „gemacht werden“ und vor allem auch schneller – aber komplementär dazu müssen wir noch viel mehr reden als bisher, wenn das „Machen“ auch wirklich nachhaltige positive Effekte haben soll. Denn erst dann bekommen wir die notwendigen Mehrheiten auch für die schon erwähnten „dicken Bretter“. Wir haben keine Zeit für reine Symbolpolitik und ideologische Nebenkriegsschauplätze. Wir müssen ambitioniert sein, aber trotzdem realistisch. Wir müssen pragmatisch agieren, aber dies immer mit Fokus auf das Erreichen der wichtigen Ziele. Hoffnung macht in dieser Hinsicht momentan vor allem die kommunale Ebene: Im Rahmen des Dialogs „Nachhaltige Stadt“ des Rates für Nachhaltige Entwicklung  haben jüngst 21 Oberbürgermeister*innen unter dem Motto „Der Mobilitätswende Flügel verleihen!“ einen bemerkenswerten Appell an die zukünftige Bundesregierung formuliert, der nicht nur ein klares Bekenntnis zum notwendigen Wandel ist, sondern auch auf den Punkt bringt, was die Kommunen dafür konkret vom Bund benötigen.

Damit sind wir wieder bei der Bundestagswahl und dem, was jetzt passieren muss. Dazu zum Schluss noch einmal ein Zitat von Carolin Emcke aus dem bereits erwähnten Text: „Die Angst, sich ernsthaft mit der Dringlichkeit und Komplexität der Fragen unserer Zeit auseinanderzusetzen, ist gespenstisch.“ Damit muss spätestens mit diesem Wahlabend Schluss sein. Am Ende der Koalitionsverhandlungen für die neue Bundesregierung muss eine klare, mutige Agenda des Wandels stehen, die dessen Komplexität nicht negiert, sondern angeht, verbunden mit dem so dringend notwendigen offenen und ehrlichen Diskurs mit der Gesellschaft in ihrer ganzen Breite.