Natürlich war ich aufgeregt, als ich mich am 11. Juni auf den Weg nach Lviv machte, diese faszinierende Stadt in der westlichen Ukraine, das erste Mal nach dreieinhalb Jahren (meine Sicht auf die Stadt aus dieser Zeit habe ich kurz nach Kriegsbeginn in einem Blogbeitrag beschrieben, mehr dazu hier). Anlass für meine jetzige Reise war das „Lviv Urban Forum“, eine dreitägige Konferenz zum Thema Stadtentwicklung und bereits das wichtigste Veranstaltungsformat zu diesem Thema in der Ukraine. Die dritte Ausgabe seit 2023 stand unter dem Motto „Building Continuity“ – wie wird Stadtentwicklung auch im Sinne von Konsistenz und Resilienz nachhaltig? Ich war eingeladen, in einer Session zum Thema Mobilität etwas zu den aktuellen Transformationsprozessen in anderen europäischen Städten zu berichten.

Das „Lviv Urban Forum“: Planungen für zukunftsfähige ukrainische Städte

Das Fachliche zuerst: Es war eine großartige, thematisch vielfältige und von einem tollen Team perfekt organisierte Konferenz auf dem Gelände einer ehemaligen Glasfabrik, heute eine der wichtigsten Eventlocations in der Stadt. Lviv besitzt viele solcher ehemaliger Industrie- und Gewerbebrachen, die jetzt Konversionsprozesse ganz unterschiedlicher Art durchlaufen. Über 1.000 Teilnehmende aus der ganzen Ukraine, vor allem junge Menschen (aus Kommunalverwaltungen, von NGOs, aus Forschung und Wissenschaft, viele Studierende…), ergänzt durch vielleicht 20-30 weitere Teilnehmende aus dem Ausland, berichteten von Projekten, tauschten Erfahrungen aus, diskutierten – und das mit einer bewundernswerten Energie und Motivation trotz der so schwierigen Rahmenbedingungen und schrecklichen Auswirkungen des russischen Angriffskriegs. Es gab zum Auftakt außerdem Exkursionen zu den verschiedensten Teilthemen. Man mag es kaum glauben, was trotz allem in dieser Stadt im Bereich Städtebau und Stadtentwicklung noch alles geplant und teilweise auf den Weg gebracht wird, vom Wohnungsbau über umgestaltete Straßenräume bis zu neuen Museen. Aber natürlich waren auch die Folgen des Krieges (bzw. die Herausforderungen nach seinem Ende) Thema der Konferenz, von den großen infrastrukturellen Fragestellungen bis zur für die Menschen nicht weniger wichtigen Frage, wie im Rahmen eines wegen des Krieges neu zu bauenden Friedhofs in Lviv ein Mahnmal für die Kriegsopfer gestaltet werden sollte. Mit welcher Sensibilität und Diskursqualität diese Frage eines angemessenen Gedenkens in Lviv diskutiert wurde und wird, hat mich tief beeindruckt.

Ebenfalls auf der Konferenz vorgestellt wurde das von Lvivs Partnerstadt Zürich maßgeblich unterstützte Vorhaben, für einen über 500 ha großen Bereich im Norden der Stadt (Lviv North – Zboischcha) über ein Werkstattverfahren mit verschiedenen Teams aus den Bereichen Städtebau, Landschaftsplanung und Mobilität Testplanungen für eine Art Masterplan für den gesamten Bereich zu entwickeln. In diesem Gebiet passieren derzeit sehr viele, aber nicht immer koordinierte und den gesamtstädtischen Interessen dienende bauliche Entwicklungen, die dringend einer integrierten Betrachtung und strategischen Steuerung bedürfen. Möglicherweise darf ich als Mitglied des projektbegleitenden Beirats daran mitwirken.

Auf der Webseite des „Lviv Urban Forum werden voraussichtlich nach und nach verschiedene Präsentationen und Videos von der Konferenz zum Download eingestellt.

Lviv im Krieg

Und der Krieg? Lviv ist keine Frontstadt. Und doch ist der Krieg fast immer präsent. Das begann schon bei der Anreise, von den Veranstaltern der Konferenz perfekt organisiert, aber eben doch ungewöhnlich und auch aufregend für mich: Vom ostpolnischen Flughafen Rzeszow wurde ich von einem Volunteer zur Grenze gefahren und vor der polnischen Seite des Grenzübergangs abgesetzt mit der Versicherung, auf der ukrainischen Seite würde jemand anderes auf mich warten, um mich nach Lviv zu bringen. So war es dann auch, aber der 500 m lange Fußweg zwischen den beiden Kontrollstationen, von Stacheldraht und Zäunen umgeben, fühlte sich dann doch etwas abenteuerlich an. So lange der Luftraum in der Ukraine für den zivilen Flugverkehr geschlossen bleibt, ist diese Art des Grenzübertritts (die insgesamt keine 15 Minuten dauerte) wohl tatsächlich die schnellste Art, um nach Lviv zu kommen (auf der Rückreise per durchgehendem Autoshuttle musste ich gemeinsam mit anderen Konferenzgästen fast zwei Stunden warten, bis die polnische Seite uns wieder einreisen ließ).

Lviv selbst wirkt auf den ersten Blick vor allem in der historischen Innenstadt fast so wie vor dem Krieg. Die Läden haben auf und sind weitgehend gut mit Waren ausgestattet, aus den Kneipen klingt Musik, das Leben geht scheinbar seinen normalen Gang. Allerdings wirkt die Stadt trotz der vielen Binnenflüchtlinge, die die Stadt aufgenommen hat, leerer als gewohnt. Und dann fallen einem rasch in den Gebäuden die allgegenwärtigen Hinweise auf die Schutzräume auf, die Sandsäcke vor den Kellerfenstern des Rathauses, der dort neu eingerichtete unterirdische Besprechungsraum, die großformatigen Traueranzeigen für die jüngst gefallenen Soldatinnen und Soldaten aus Lviv auf dem zentralen Platz Rynok. Jeden Morgen um 9:00 steht das öffentliche Leben für eine Minute still, die Autos halten an, die Menschen steigen aus und gedenken der Opfer. Jeden Tag gibt es Trauerfeiern und Begräbnisse, welche ihre Ursachen im Krieg haben. Ein sehr eindrückliches Bild von Lviv in Zeiten des Krieges bietet der auf der letzten Berlinale uraufgeführte Dokumentarfilm „Time to the target“ von Vitaly Mansky (mehr dazu z. B. hier).

Im schon erwähnten Stadtteil Zboischcha befindet sich auch Unbroken, das zentrale Rehabilitationszentrum in der Ukraine für Menschen, die im Krieg verletzt worden sind und Gliedmaßen verloren haben. Seit Kriegsbeginn wurden dort fast 20.000 Menschen behandelt. Dort durchzulaufen, das Leid zu sehen und gleichzeitig das durchdachte und nach vorne gerichtete Bemühen um Heilung, ist erschütternd und Mut machend zugleich.

Während des Kongresses gab es viele Gelegenheiten für Gespräche mit Teilnehmenden zu ihrer Sicht auf den Krieg. Alle eint die Einstellung, dass für sie ein Aufgeben nicht in Frage kommt und die feste Überzeugung, dass ein Nachgeben letztendlich zum Verlust ihrer Unabhängigkeit und Freiheit führen würde. Auch daraus schöpfen sie diesen für Außenstehende kaum fassbaren Mut und eine Unerschrockenheit, welche ihnen hilft, weiter an der Gestaltung ihrer Zukunft zu arbeiten. Gleichwohl, sie sind auch alle auf unterschiedliche Art vom Krieg gezeichnet. Da ist Dana, die junge Frau aus Kyiv, die dort studiert und mich als Volunteer von der Grenze nach Lviv begleitete. Sie erzählte, dass für sie der Aufenthalt in Lviv wie Urlaub sei, endlich mal nicht jede Nacht Luftalarm und Aufsuchen eines Schutzraums. Andere berichteten über die zunehmende Intensität der russischen Angriffe auf die Hauptstadt („es ist das erste Mal seit Kriegsbeginn, dass ich wirklich Angst hatte“). Und dann waren da noch die drei jungen Frauen aus Luzk, einer Stadt mit ca. 200.000 Einwohnern nördlich von Lviv. Sie vertraten eine NGO, die das touristische Interesse an ihrer Stadt stärken will, und erzählten mir begeistert, was Luzk zu bieten hat. Und sie betonten, wie sicher Luzk während des Krieges sei, sicherer noch als Lviv. Vier Wochen später gab es dort die schlimmsten Drohnen- und Raketenangriffe seit Kriegsbeginn. Ich drücke die Daumen, dass es allen dort gut geht.

Die Ukraine braucht uns

Ich selber habe in diesen vier Tagen in Lviv keinen Luftalarm erlebt, alles war friedlich (einen Monat später hat sich das allerdings wieder geändert, Russland hat seine Angriffe wieder auf die gesamte Ukraine ausgeweitet). Fast beschämend war die Dankbarkeit so vieler Menschen, von den Organisierenden wie den Teilnehmenden, dass wir „Externe“ nach Lviv gekommen waren, das sei so mutig. Aber was ist Mut? Wir wurden die ganze Zeit bestens betreut, um alles wurde sich gekümmert. Mutig sind die Menschen dort, die der russischen Aggression trotzen, nicht nur an der Front, sondern indem sie sich mit dem Blick nach vorne für die Zukunft ihres Landes, ihrer Stadt, ihres eigenen Lebens einsetzen.

Wir alle sind (auch im eigenen Interesse) gefordert, dieses Land weiter zu unterstützen, „whatever it takes“.