Eigentlich bin ich ein ruhiger und grundsätzlich optimistischer Mensch. Ich schätze Pragmatismus, wenn er dazu dient, ambitionierten Zielen Schritt für Schritt näher zu kommen. Und ich mag gute Kompromisse. Sie sind zentraler Bestandteil einer funktionierenden Demokratie – wenn sie nicht zu Formelkompromissen verkommen, die den Stillstand zementieren.

Aber in diesen Zeiten fällt es mir schwer, ruhig zu bleiben und nicht wütend zu werden. Der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine geht uns allen nahe. Durch meine persönlichen Beziehungen zu Lviv/Lemberg in der Westukraine, wie ich sie in meinem letzten Blogbeitrag beschrieben habe, ist mir dieser Krieg vielleicht näher als anderen, für die die Ukraine zunächst einmal „weit weg“ und „irgendwo im Osten“ liegt (bzw. lag). Die Wut wächst in erster Linie angesichts der Diskussion, wie sie hier in Deutschland in weiten Teilen der Politik stattfindet, vor allem aber auch über die Art und Weise, wie in diesem Zusammenhang bei Entscheidungen abgewogen wird.

Die unzulängliche Solidarität

Wir verkünden (fast) alle unsere Betroffenheit über diesen Krieg und unsere „volle“ Solidarität mit der Ukraine. Und gleichzeitig wächst aus meiner Sicht tagtäglich die Diskrepanz zwischen Worten und Taten, parallel zu den immer schrecklicher werdenden Dimensionen des Krieges. Wir tun angeblich das, was möglich ist, aber ohne uns wirklich ernsthaft aus unserer Wohlfühloase herauszubewegen. Wir betrachten steigende Benzinpreise und leere Supermarkregale für Sonnenblumenöl schon als hohe Belastung für die deutsche Bevölkerung – und teilweise als bereits nicht hinzunehmen. Aber was ist das im Vergleich zu dem, was gerade die Menschen in der Ukraine erleiden? Wie können wir es da wagen, unsere Alltagssorgen als Maßstab für Zumutbarkeit zu nehmen? Die Ukraine erleidet einen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung, wie uns die Fernsehbilder jeden Abend vor Augen führen – und wir signalisieren durch unser (Nicht-)Handeln, dass wir nicht bereit sind, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die Ukraine zu unterstützen. Stefan Kornelius hat das in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 26.03.2022 so ausgedrückt: „Wer in Sprache, Haltung und Entscheidung die Niederlage der Ukraine einpreist, versieht das Geschäft des Usurpators. Gerade in Deutschland sollte das niemandem passieren.“

Ich bin kein Energieexperte. Ich verstehe, dass ein sofortiger Ausstieg aus den Gas- und Ölimporten aus Russland schwerwiegende Konsequenzen für die Wirtschaft und auch unseren Wohlstand haben kann (vor allem beim Gas) und dass man diese Auswirkungen bei einer Entscheidung bedenken muss, insbesondere hinsichtlich entstehender sozialer Härten. Ich muss diese Entscheidung nicht treffen und ich bin froh darüber. Aber die Politik muss bei dieser Abwägung auch einbeziehen, was den Menschen in der Ukraine nützt – und vor allem auch, wann es wirkt. Es ist großartig, dass der Bundeswirtschaftsminister so intensiv an einer langfristig gesicherten, dauerhaften Unabhängigkeit Deutschlands vom Import fossiler Brennstoffe aus Russland arbeitet. Aber der Krieg findet jetzt statt. Jetzt müssen die möglichen Maßnahmen ergriffen werden, die das Putin-Regime direkt treffen. Nach allem, was ich gelesen habe, wäre zumindest ein sofortiger Ausstieg aus dem Öl-Geschäft mit Russland zwar natürlich nicht ohne Auswirkungen, aber doch weitgehend verkraftbar – und vor allem: Eine Mehrheit im Land würde das jetzt akzeptieren.

Aber was macht (von Ausnahmen abgesehen) die Politik? Sie hat offenbar Angst vor ihren eigenen Wählerinnen und Wählern. Sie traut ihnen eine solche Akzeptanz von Einschränkungen nicht zu. Sie will die Bevölkerung lieber in Watte packen, beschwichtigen statt auf Zumutungen vorbereiten (obwohl diese ohnehin irgendwann unvermeidlich sein werden). Statt Veränderungsbereitschaft zu unterstützen (und damit die Chance zu nutzen, endlich einmal zukunftsfähige Politik zu machen), wird Veränderungsangst bestärkt. Wie soll man da nicht wütend werden?

Entlastungspakete und andere Nebenschauplätze

Stattdessen wird ein „Entlastungspaket“ geschnürt, das ein Musterbeispiel für einen schlechten Kompromiss darstellt: Alle Koalitionsfraktionen können sich irgendwie wiederfinden (soziale Komponente, Entlastung der Autofahrenden, ein Signal in Richtung Mobilitätswende). Die vor allem auf die gestiegenen Heizkosten abzielende finanzielle Unterstützung der Haushalte macht Sinn. Aber die langfristige Wirkung dürfte ansonsten gleich null sein, konsistente Energie- und Mobilitätspolitik sieht anders aus. Anstatt zielgenau die Menschen zu unterstützen, die tatsächlich durch höhere Mobilitätskosten in echte Nöte geraten, wird mit der Gießkanne gearbeitet. Die pauschale Reduzierung der Treibstoffpreise belohnt letztendlich vor allem diejenigen, die mit verbrauchsintensiven großen Fahrzeugen viel fahren, anstatt Anreize zum Energiesparen zu setzen. Und das (auf drei Monate befristete) 9-Euro-Ticket im ÖPNV? Wem nützt es denn wirklich? Dort, wo das ÖPNV-Angebot unzureichend ist, wird es kaum Autofahrende in öffentliche Verkehrsmittel locken. Bei schon gutem Angebot müsste ein Umstieg in relevanter Größenordnung von parallelem Angebotszuwachs begleitet werden – aber dafür gibt es kein Geld (zuletzt konnten sich die Verkehrsminister*innen nicht einmal auf den für Angebotsausweitungen dringend notwendigen Aufwuchs der Regionalisierungsmittel verständigen). Und was ist eigentlich nach den drei Monaten? Werden da nicht Hoffnungen geweckt, dass die ÖPNV-Nutzung auf Dauer so billig sein kann? Dazu noch der bürokratische Aufwand für die Einführung des Tickets – vermutlich könnten die notwendigen Mittel für den ÖPNV an anderer Stelle deutlich sinnvoller eingesetzt werden. Was bleibt, ist Symbolpolitik.

Ach, und da ist ja noch das Tempolimit auf Autobahnen… Es wäre ein Beitrag, um die negativen Folgen eines Ölembargos abzufedern. Und egal ob ein Tempolimit 2, 4 oder 6 Prozent weniger Ölimporte aus Russland bedeutet: Es ist ein Symbol dafür, ob dieses Land zum Wandel fähig ist – und deshalb keine Nebensache. Das Tempolimit rettet nicht die Welt. Aber es ist ein kleiner Baustein, über dessen „Zumutbarkeit“ ich nicht mehr zu diskutieren bereit bin, die Argumente liegen auf dem Tisch (z. B. hier). Wir werden viele kleine Bausteine brauchen, bei der Rettung der Ukraine ebenso wie beim Kampf gegen den Klimawandel. Und deshalb macht es mich wütend, wenn das Thema kleingeredet wird, weil es „nur“ ein kleiner Baustein ist oder als „parteipolitische Ideologie“ abqualifiziert wird, weil man sich davor scheut, sich mit fachlichen Argumenten auseinanderzusetzen zu müssen.

Was bleibt – neben der Wut?

Vielleicht erinnern sich manche noch an die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Schutz der Erdatmosphäre“ in den 1990er Jahren. Wenn nur die seinerzeit von der (CDU/FDP-)Mehrheitsmeinung geforderten und durchaus nicht radikalen Maßnahmen konsequent umgesetzt worden wären, dann stünde der Benzinpreis heute bei 2,30 – 2,50 € – und niemand würde sich darüber aufregen, auch sonst wären wir beim Klimaschutz (im Verkehr und bei anderen Sektoren) schon deutlich weiter. Das Versagen der bundesdeutschen Politik bei der Gestaltung eines notwendigen Wandels hat also eine lange Geschichte. Wann müssen wir daraus lernen – wenn nicht jetzt?

Ernsthaft lernen, das würde für mich heißen, gemeinwohlorientierte Politik zu betreiben – und das heißt ausdrücklich nicht, den jetzigen Wohlstand um jeden Preis auf Kosten Dritter zu verteidigen. Es geht um Gerechtigkeit, nach innen wie nach außen, es geht um Zukunftsfähigkeit und den überstrapazierten Begriff der Nachhaltigkeit. Dazu gehört auch, dass zum Erreichen der damit verbundenen Ziele Zumutungen für die deutsche Bevölkerung möglich sein müssen. Und diese werden akzeptiert, wenn man Sinn und (kurz- wie langfristigen) Nutzen gut erklärt und deutlich macht, dass letztendlich alle vom Wandel profitieren werden, dem diese Zumutungen dienen. Zumutungen dürfen und müssen keine Angst machen. Sie gezielt sozial abzufedern für die, die darauf angewiesen sind, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Letztendlich führt eine solche Politik automatisch zu klaren und auch gut vermittelbaren Priorisierungen. Das heißt auf lange Sicht, dass der Klimaschutz ganz vorne steht – und für jetzt: die Ukraine mit allen verfügbaren Mitteln unterstützen und das Leid der dort lebenden Menschen lindern. Und das eine schließt das andere ja nicht aus.

All dies braucht Mut statt Zögerlichkeit, Veränderungsbereitschaft statt Status-quo-Verteidigung. Dazu gehört auch Ehrlichkeit, die nicht beschönigt oder beschwichtigt, sondern die Menschen auf die notwendige Veränderung vorbereitet, dabei aber auch ermutigt. Das derzeitige Handeln und Argumentieren des Bundeswirtschaftsministers ist in dieser Hinsicht ein großer Lichtblick – erste Risse in der Erstarrung der Politik scheinen sichtbar zu werden. Womit ich wieder beim im Blogbeitrag zu Lviv/Lemberg zitierten Leonard Cohen wäre: „There’s a crack in everything. That’s how the light gets in.“ Da habe ich mir wohl trotz aller Wut noch ein wenig Optimismus bewahrt.